1.7.2022

25 Jahre Leben in Billerbeck

Noch nie in meinem Leben habe ich so lange an einem Ort gewohnt

„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ (Thomas Brasch 1945-2001)

Als Niederrheiner habe ich nur als Theologiestudent und später als Spiritual in Münster in Westfalen gelebt. Beerdigt werden möchte ich in meiner Heimatstadt Kleve, aber bis dahin ...

Da ich nach meiner Kaplanszeit und meiner Zeit als Bezirksvikar sowie 18 Jahren als als Spiritual und Domvikar noch nie eine Pfarrei geleitet hatte, wollte ich auch im Alter keine mehr übernehmen. Daher schickte mich Bischof Dr. Reinhard Lettmann nach Billerbeck, wo Heinrich Remfert Propst geworden war. Mit ihm hatte ich viele Jahre im Collegium Borromaeum zusammengearbeitet, er als Direktor, ich als Spiritual. Ein halbes Jahr vor mir geweiht, assistierte ich bei seiner Primiz als Subdiakon. Anschließend wurde er in meiner Heimatpfarrei in Kleve Christus-König Kaplan.

Ich bekam eine Wohnung im Modehaus Linus Lammerding mit dem Werbeslogan „Lammerding – Mode unter´m Bogen“. Familie Lammerding war zum Esch gezogen, um mehr Spielmöglichkeiten für ihre Kinder zu haben.

Modehaus Lammerding

Linus Lammerding sen. gründete 1938 das Modehaus Lammerding. 1987 übernahm Linus Lammerding jun. das Geschäft von seinem Vater.

Als ich von der Vorgeschichte des Hauses erfuhr, erinnerte ich mich an alles, was ich über die Judenverfolgung wußte. Nun zog ich in ein Haus, in dem bis 1938 Juden gelebt hatten. Josef Albersheim hatte dort mit seiner Familie ein Manufakturwarengeschäft betrieben und mußte es verkaufen.

Aus vorhandenen Unterlagen ersehe ich, daß die im Haus wohnenden jüdischen Familien Lammersdorf und Albersheim bis zu ihrer Deportierung Kontakt miteinander hatten. Im Haus wohnte auch Familie Eichenwald mit ihren Kindern Rolf-Dieter (* 27.8.1936) und Eva (* 15.12.1937). Ruth Eichenwald war eine geborene Albersheim. Die beiden Kinder wurden vermutlich mit ihrer Mutter am 2. November 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf dem jüdischen Friedhof in Billerbeck hat man für die beiden Kinder eine Gedenktafel errichtet.

Am 3. März 2021 wurden vor dem Haus Lange Straße 13 Neun  Stolpersteine mit den Namen der jüdischen Bewohner dieses Hauses verlegt. Angestoßen hatten das Projekt Schüler aus Billerbeck. Der jüdischen Mitbürger zu gedenken, ist gut, wichtig und absolut notwendig, allerdings finde ich persönlich Gedenktafeln passender als Stolpersteine.

Siehe Äußerungen von früher:

 Warum gibt es in Kleve keinen Stolperstein zum Gedenken an Karl Leisner?,
Stolpersteine oder Gedenktafeln zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus?
und
Vom Bildstock und Wegkreuz zum Stolperstein.

Als Christ und Katholik habe ich Muslime kennengelernt und lebe in einem Haus, in dem Juden gewohnt haben. Wir glauben als Monotheisten alle an einen Gott, streiten uns aber, wer den richtigen Glauben hat. Aber nicht nur das. Diese Auseinandersetzung gibt es auch zwischen Katholiken und Protestanten sowie Orthodoxen und ebenso im Islam zwischen Sunniten und Schiiten. Ob nicht der sich global auswirkende Corona-Virus die Botschaft in sich trägt: „Vertragt euch und glaubt, daß es nur eine Transzendenz gibt, die jede Religion lediglich mit einem anderen Namen bezeichnet!“?

Von 1953 bis 1957 wurde das Textilgeschäft zum ersten Mal in großem Umfang umgebaut. Damals entstand der heutige charakteristische Bogengang vor dem Geschäftslokal. 1981 erfolgte der zweite große Umbau.

1987 wurde Linus Lammerding, der bis dahin gemeinsam mit seinem Vater die Geschicke des Unternehmens gelenkt hatte, alleiniger Inhaber. Nach 80 Geschäftsjahren in 2. Generation gab er aus Altersgründen das Modehaus in Billerbeck auf und schloß es Ende Dezember 2019. Familie Leuters kaufte das Haus 2020 mit der Auflage, daß ich dort wohnen bleiben dürfe, solange ich wolle. Ich freue mich, daß ich einen so einfühlsamen Vermieter bekommen habe.

Luftaufnahme des Hauses

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Durch den neuen Vermieter tut sich viel im und am Haus. Die äußeren Veränderungen zeigen sich auf folgenden Fotos. Es handelt sich sozusagen um

Zwischenstationen, bevor ein neues Geschäft dort seinen Platz findet.

neu gestaltetes Schaufenster

 

 

 

 

 

Im Februar 2021 hat man eine besondere Idee im Schaufenster verwirklicht.

Die AZ Billerbecker Anzeiger berichtete darüber am 13. Februar 2021 unter der Überschrift „Citymanagement sucht kreative Interessenten für neues Konzept - Zukunftshandel und Co-Working im ehemaligen Modehaus“ und den einleitenden Zeilen „Das Citymanagement will für das ehemalige Modehaus in der Lange Straße eine neue Perspektive entwickeln. Fördergelder für die Belebung von Ladenleerständen in der Billerbecker Innenstadt ermöglichen es, dabei neue Wege zu beschreiten und unkonventionelle Ideen auszuprobieren, wie es in einer Pressemitteilung heißt.“

Billerbecker Anzeiger vom 24. Juni 2021

Neben der Geschichte der Wohnung, die mein Zuhause ist, machen mich der Name „Lange Straße“, die man früher in einem Wort „Langestraße“ schrieb, und die Hausnummer „13“ nachdenklich.

Vielleicht lebe ich schon so lange in dieser Straße, um etwas von dem zu begreifen, was ihr Name auch symbolisch aussagt. Sie ist nicht nur die älteste Straße im Ort, sondern verbindet auch die Johannikirche und den Ludgerusdom. Darin könnte das Verbindende von allem zum Ausdruck kommen, und wir sollten es pflegen, aber meistens betonen wir nur das Trennende und Unterscheidende.

Weiterhin stellt sich die Frage: „Wie lang ist ein Lebensweg, und wie ist er gestaltet?“ In den vergangenen Jahren erfuhr die Lange Straße zahlreiche Veränderungen. Die Kanalisation mußte ausgebessert werden, nachdem bei Starkregen die Keller vollgelaufen waren. Dann hatte man die falschen Steine für den Straßenbelag gewählt. Schon bei Feuchtigkeit, nicht erst bei Schnee und Eis, glich die Straße einer Schlinderbahn. Manche Fußgänger kamen dort zu Fall. Auf den roten Klinker folgte eine rutschfeste Pflasterung mit Grauwacke.

Fotos: Joachim Albrecht

 

 

 

 

 

Die erneuerte Straße ist jetzt auch für Radfahrer freigegeben. Diese meinen nicht selten, die Fußgänger müßten ihnen ausweichen. Wie lange mögen die Menschen noch fähig sein zu gehen? Eine Lehrerin äußerte einmal, in 200 Jahren seien die Beine wegrevolutioniert. Tatsächlich geht kaum noch ein Kind aus den Bauerschaften wie früher zu Fuß zur Schule. Als Ausgleich zur Straße bewege ich mich mit wenigen Ausnahmen jeden Tag auf dem „Berkelweg“.

Mit der Dreizehn als sogenannter Unglückszahl kann ich gut leben. Sie ist an der Hauswand kaum zu sehen. Friedrich Wilhelm Weber (1813-1894) zitiert in seinem Werk „Dreizehnlinden“ XVII Des Priors Lehrsprüche:
„Freiheit sei der Zweck des Zwanges,
Wie man eine Rebe bindet,
Daß sie, statt im Staub zu kriechen,
Froh sich in die Lüfte windet.“

Diese Gedanken machen mir bewußt, daß ich seit einigen Jahren wieder so frei bin, wie ich es zum ersten Mal in meinen Freisemestern 1960/1961 in München war.

In den langen Jahren, in denen ich bis zur Pensionierung auch seelsorglich in allen Bereichen wie Taufen, Hochzeiten, Krankenbesuchen, Krankenkommunionen und Beerdigungen, aber auch Predigten und Vorträgen sowie Betreuung von Menschen in Billerbeck tätig war, ist mir die Stadt sehr ans Herz gewachsen.

Mein Bruder in Kleve lud mich immer mal wieder ein, die Mietwohnung in unserem Elternhaus zu beziehen. Aber das wollte ich nicht. Ich will nur in Kleve beerdigt werden.

Jetzt bin ich wieder wie in Münster und Aspel nur noch Spiritual und begleite ganz unterschiedliche Menschen von nah und fern. Das erfüllt mich sehr, und ich habe keine Langeweile.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von den beiden Kirchen Ludgerusdom und Johannikirche schätze ich letztere am meisten. Dort zelebriere ich auch am liebsten.

Zwei Gänse sind ein Merkmal des Heiligen Ludgerus, der in Billerbeck gestorben ist.

 

 

 

 

 

 

 

Foto: Stephanie Sieme/Billerbecker Anzeiger

 

Zwei solcher Gänse besuchten Billerbeck und watschelten durch die Lange Straße. Zum Einzug in Billerbeck bekam ich aus Wesel, meiner zweiten Kaplansstelle, zwei Gänse aus Keramik geschenkt.

 

Sie stehen nun auf meiner Terrasse und schauen in Richtung Kleve, meiner Geburtsstadt. Dort befindet sich die sogenannte Schwanenburg mit Sitz des Amtsgerichtes. Von der Spitze des Schwanenturmes blickt ein Schwan in das weite Land.

* * * * *

„Wo kommst Du weg?“, fragt man in meiner Heimat Kleve am Niederrhein. Manche Menschen sprechen vom „Herkunftsort“. Das ist für mich zu wenig.

Abgesehen von einer kurzen Zeit der Evakuierung im Krieg in Barby an der Elbe und den Jahren 1952 bis 1958, in denen ich in Limburg gelebt habe, um mein Abitur zu machen, aber in Kleve gemeldet war, habe ich Kleve mit der Schwanenburg, die meine letzte Arbeitsstelle als Maurerlehrling war, als meine Heimat angesehen. Ich werde wohl in Billerbeck sterben, aber beerdigt werden möchte ich, wie bereits mehrfach erwähnt, in Heimaterde, und zwar in Kleve im Priesterrondell, wo auch Karl Leisner gelegen hat, bis er in die Krypta des Xantener Domes überführt wurde, während ich dort meine erste Kaplansstelle hatte.

* * * * *

UNTERWEGS scheint mein Lieblingshaus zu sein, in dessen zu Hause ich mich am wohlsten fühle.

Wer längere Zeit in der Fremde lebt, lernt sich selbst besser kennen, als derjenige, der in dem Ort bleibt, in dem er aufgewachsen ist.

Obwohl ich ein Typ fester Gehalte bin, habe ich unter meinen Vorfahren wahrscheinlich von Ort zu Ort wandernde Menschen. Auf Erden kehre ich heim an den Ort, wo ich geboren wurde. Im Sterben kehre ich heim in das ALLEINE bei Gott, das wir Christen Himmel nennen.

Mein Traum ist, bis zum Sterben in meiner jetzigen Wohnung zu leben und eines morgens tot im Bett gefunden zu werden. In meiner Patientenverfügung habe ich mich gegen Wiederbelebung und jegliche lebensverlängernden Maßnahmen entschieden. Deshalb vertraue ich fest darauf, daß ich mein letztes Ausatmen ohne fremden Eingriff mache, wenn die Schleier fallen und ich das Einssein mit dem ALLEINEN nicht nur glauben, sondern erleben darf.

Siehe auch Bei sich zu Hause sein
und
Seele auf Erden.

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Ein Rheinländer in Westfalen

Quelle des Fotos

Am 23. August 1946 wurde aus dem Niederrhein und Westfalen „Nordrhein-Westfalen“. Damit wurden zwei Menschenschläge zusammengeführt, die nicht so recht zusammenpassen. Als Jugendliche witzelten wir Niederrheiner: „Als in Westfalen die Affen noch auf den Bäumen saßen, gingen die niederrheinischen Mädchen mit den römischen Söldnern nach der Maiandacht spazieren“. In Xanten ist St. Viktor der Patron des Domes. Mit seiner Kohorte der Thebäischen Legion richtete man ihn wegen des Bekenntnisses zum christlichen Glauben gegen Ende des 3. Jahrhunderts hin.

 

In der F.A.Z. vom 23. August 2021 gab Reiner Burger eine Antwort auf die Frage: „Wer hat Nordrhein-Westfalen erfunden?“

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