28.7.2020

 

5. Die Boa oder die Blockierung durch Angst – Orientierung am Kind (Kapitel I)

Das Buch Der Kleine Prinz gliedert sich in drei Teile: Bekanntwerden mit dem Kleinen Prinzen, Leben und Reise des Kleinen Prinzen, Abschied vom Kleinen Prinzen.

Als sechsjähriger Junge hat Antoine de Saint-Exupéry in dem Buch „Erlebte Geschichten“ über das Leben im Urwald gelesen. Er erfuhr, daß eine Riesenschlange, eine gefährliche Boa, ihre Beute als Ganzes verschlingt, „ohne sie zu zerbeißen“. Genau diese Situation war auf einer Zeichnung in dem Buch dargestellt. Weiterhin hieß es dort: „Daraufhin können sie sich nicht mehr rühren und schlafen sechs Monate, um zu verdauen.“ All das löste bei ihm vermutlich ein gewisses Angstgefühl aus. Vielleicht erinnert sich mancher Leser auch an ähnliche in der Kindheit erfahrene Ängste.

Der kleine Antoine zeichnete eine Boa, die einen Elefanten vollständig verschlungen hatte und ihn nun verdaute.

Die „großen Leute“ erkannten in seiner Zeichnung aber nur einen „alten Hut“ und rieten ihm, mit dem Zeichnen aufzuhören. Geistvolle Menschen aber verstehen es, in das Innere der Schlange zu schauen.

Die Boa symbolisiert ein bestimmtes In-der-Welt-sein, und zwar die Empfindung von äußerster Bedrohung und Ausweglosigkeit. Sie verschlingt einen Elefanten, das größte und stärkste Tier. Er verkörpert ein sanftmütiges und schwerfälliges Wesen, und zugleich Weisheit.

Vielleicht war Antoine de Saint-Exupérys erste Zeichnung der Versuch, seine Kindheitsängste zu vergegenständlichen und andere auf seine Situation aufmerksam zu machen. Die Boa sieht nur von außen so harmlos wie ein Hut aus. Die Angst ist im Innern verborgen.

Nicht das Niedliche, sondern seine Offenheit ist das Bedeutsame an einem Kind. Es ist ebensosehr Geschenk wie die Geburt eines Wesens, das sich in nichts sich selbst verdankt. Das Heil ist ein Ereignis von oben, nicht eine Leistung des Menschen. Das Beeindruckendste an einem Kind ist seine Blickrichtung, es schaut auf. Die Erwartung des Kindes befindet sich über, nicht unter ihm. Der Becher seines Daseins ist nach oben hin geöffnet. Alles läßt es sich geben. Wir kommen dorthin, wohin sich unser Blick richtet; wer aufschaut gelangt nach oben, wer herabschaut nach unten.

Kinder strahlen vom Umgang mit dem Licht. Es ist nicht die Leere des Wartens, die sich im Gesicht eines Kindes widerspiegelt – diese zeigt sich erst, wenn Menschen das Licht aus dem Auge verloren haben –, sein strahlendes Hoffen geht hervor aus der Seligkeit des schon Gewährten.

Das Kind ist ganz Auge. Es nimmt bei seinem Schauen noch nichts fort durch den Rückblick auf sich selbst oder durch den Seitenblick auf den Nachbarn. In seinem Sehen der Dinge gibt es noch keine vorgefaßte Meinung. Es begegnet seinem Gegenüber ohne Vorurteil.

Aus seinem arglosen Sehen ergibt sich auch ein unbekümmertes Handeln. Ein Kind liebt völlig absichtslos und nicht in Grenzen, die sein eigenes Interesse oder andere Leute schon vorher abgesteckt haben. Es schenkt uns seine Nähe, ohne daß wir sie uns erst verdienen müssen.

Das Kind ist spontan. Wie aus einer Quelle das frische Wasser, so unmittelbar sprudelt aus seinem Schauen das Tun hervor. Mancher Erwachsene hat am Morgen das Herz, ein halbes Vermögen auszugeben, am Abend aber nur noch das Herz für ein paar Groschen.

Das Kind sieht nicht sich selbst, sondern die Erwachsenen als Gabe. Es hält sich nicht für so groß, daß es selbst eine Aufgabe an ihnen hat, wobei diese doch darin besteht, sie zum Lächeln zu bringen. Solange es aufschaut, sieht das Kind die Wirklichkeit als das von oben Gegebene.

Wer aufhört, Kind zu sein, sieht nur noch Aufgaben, die er zu erfüllen hat. Für ein geistig erwachendes Kind sind alle Dinge staunenswert.

Die Lüge beginnt im Auge, und zwar dadurch, daß man über die objektiven Gegebenheiten einer Sache hinwegsieht, um sie in den eigenen Griff zu bekommen. Wenn jemand dem Geist des Kindseins abgesagt hat und als Lügner ertappt wird, errötet er nicht mehr, sondern erbleicht. Das Kind verschweigt die Unwahrheit nicht, so sagt es im Märchen Des Kaisers neue Kleider offen heraus: „Er hat ja nichts an!“ Mit seiner schuldlosen Offenheit bringt das Kind auch Erwachsene noch zum Erröten. Es ruft es hervor, indem es sich an das Kind im Erwachsenen wendet.

Das Kind will nicht erst begreifen, bevor es gehorcht. Der Ansatz seines Handelns liegt nicht in ihm selbst; denn es muß nicht jegliche Weisung erst vor dem Forum der eigenen Intelligenz rechtfertigen, es genügt ihm der Auftrag durch eine ihm vertraute Person. Die unbekannte Stimme eines Fremden aber macht ihm nicht selten Angst, wohingegen dem Erwachsenen das Gesagte meistens wichtiger ist als der Ton der Stimme.

Das Kind ist arm. Es lebt von dem, was es jeweils neu empfängt. Es ist sorglos und sichert sich nicht ab. Da es die Sorge um sich selbst nicht kennt, breitet es vor aller Augen seine ihm eigenen Schätze aus.

Das Kind sucht und liebt über alles Verbundenheit. Sein Leben ist das der anderen. Über seine Welt spannt sich der reine Himmel des Du. Sein reines Gemüt will nicht sich selbst, sondern ein Antlitz der Liebe sehen. Alles Sein ist für das Kind Mitsein. Allen Geschöpfen ist es verschwistert. Das Kind ist lautere Offenheit zum geliebten Anderen hin. Es schließt sich weder ab noch ein. Seine schlimmste Strafe besteht darin, von anderen ausgeschlossen oder eingesperrt zu werden.

Kinder sollen den Erwachsenen helfen, ihr eigenes Ich-Ideal von Spontaneität, Sinnlichkeit und Unbefangenheit zu erreichen. Die Kinder selbst aber müssen ihr Leben nach eigenen Gesetzen leben; denn sie sind Kinder „der Sehnsucht des Lebens nach sich selber“ (Khalil Gibran 1883-1931).