
2.11.2020
Allerseelen
Dieses Fest heißt auf Lateinisch „[Dies] in commemoratione omnium fidelium defunctorum – Tag des Gedenkens an alle verstorbenen Gläubigen“.
Was aber passiert mit den Armen Seelen? Viele unserer Vorstellungen über das, was nach dem Sterben und dem Tod kommt, entstammen dem Denken unserer Vorfahren, die die Erde noch als eine flache Scheibe sahen, über die sich eine Käseglocke wölbt.
So gab es einen Ort für den Himmel oben und die Hölle unten. Das Dazwischen nannte man Fegfeuer. Dante Alighieri (1265-1321) hat das in seiner Göttlichen Komödie sehr anschaulich beschrieben. Die in Hölle, Fegefeuer und Paradies aufgeteilte „Divina Commedia“ gilt als bedeutendste Dichtung der italienischen Literatur.
Neben dem Dichter Dante Alighieri haben auch Maler, wie zum Beispiel Hieronymus Bosch (1450-1516), den Menschen die Qualen der Sünden schauderhaft vor Augen gestellt. Die Kirche selbst realisierte ihre Vorstellung vom Jenseits vor allem durch die Steinmetzarbeiten in den Tympana der gotischen Kathedralen. Die Besucher sehen bei jedem Betreten der Kirche sehr ausgeprägt den Höllenrachen und die Schar derer, die dort hineinwandern. Die Furcht vor dem strafenden Gott und der Hölle war stärker als der Glaube an die Frohe Botschaft von der Erlösung durch Jesus Christus.
Hans-Karl Seeger
Für mich persönlich hat das alte Weltbild keine Gültigkeit; denn wir wissen, daß die Erde weder der Mittelpunkt des Kosmos noch eine Scheibe ist, sondern eine Kugel, die sich um die Sonne dreht.
Für mich ist das Sterben kein Übergang in ein „Irgendwohin“. Ich lebe bereits in der Ewigkeit, kann sie aber nur glauben, weil ich an die Vorstellung von Raum und Zeit gebunden bin. Die Zeit ist für mich eine Pause von der Ewigkeit. Aber im Sterben fallen die Schleier, und ich darf erfahren, was ich bis dahin geglaubt habe. Vorher sind die Schleier nicht zu lüften.
Gott ist das ALL-EINE und damit auch die allumfassende Liebe. Wie klein ist aber oft unsere Liebe. Doch der Liebende erkennt im Geliebten etwas, was nur auf die Weise des Liebens erkennbar ist. Liebe ist nicht rationalisierbar. Blaise Pascal (1623–1662) formuliert: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ In bezug auf das ALL-EINE ahnt der Liebende hinter dem Schleier die Wirklichkeit des Ewigen. „Platz“ für eine Hölle gibt es dort nicht.
Für uns Christen geschieht im Sterben eine Verwandlung in die Ewigkeit. Diese ist verbunden mit dem „Fegfeuer“, das darin besteht, Stellung zum eigenen Leben zu nehmen und den Schmerz des Schuldiggewordenseins als Läuterung zu ertragen, um letztendlich ganz der Ewigkeit anzugehören, in der alle Gegensätze zusammenfallen.
„Der Lebenslauf des Menschen besteht darin, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tod in die Arme tanzt.“ (Arthur Schopenhauer 1788-1860), aber Arthur Schopenhauer sah den Tod nicht als Verwandler, der unsere Hoffnung erfüllt, in die Ewigkeit Gottes einzugehen.
katholisch.de vom 2. November 2020

Heimweh nach Gott – Gedanken zu Allerseelen von Bischof Bätzing
Alles ist vergänglich. Das wird besonders an Feiertagen wie Allerseelen deutlich. In einem Gastbeitrag für katholisch.de macht Bischof Georg Bätzing sich zum heutigen Gedenktag darüber Gedanken, warum uns unsere Vergänglichkeit ausmacht und welche Wahrheiten die Corona-Pandemie aufdeckt.
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Aus meinem Buch „Was mich ärgert, hat mit mir zu tun!“
Das Lebensende ist nicht das Ende des Lebens
Mit jeder Geburt wird eine Welt neu geschaffen, mit jedem Menschen stirbt eine Weltgeschichte. Das Mysterium des Lebens tritt mit dem Tod schlagartig hervor. Mit Grabbeigaben wollten unsere Vorfahren den Verstorbenen für ein Leben nach dem Tod rüsten. Aber wohin entschwindet er? Tot ist der Mensch in bezug auf das Leben, das er gelebt hat. Der Tod selbst ist eine Art von Leben; denn er ist ein großer Verwandler. Wir können nicht wissen, in welchem Status der Tote lebt. Daß wir uns ein Leben nach dem Tod nicht vorstellen können, ist kein Beweis dafür, daß dieses Leben nicht existiert.
Irdisches Leben ist schön und manchmal auch himmlisch. Aber das größte Geschenk an den Menschen ist ohne Zweifel seine eigene Sterblichkeit. Wer möchte schon ewig auf dieser Erde leben? Dennoch behandelt der Mensch die eigene Sterblichkeit wie einen Todfeind, den es auszulöschen gilt. Die Todesgewißheit gibt dem Leben aber seinen Wert. Die Evolution bringt nichts hervor, was nicht in irgendeiner Weise von Vorteil ist, dazu gehört auch der Tod. Unsere Bestimmung ist die Vollendung, die hier und jetzt beginnt. Die letzte Wegstrecke ist eine glückliche Periode, weil sie uns dazu bringt, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir sollen unseren Lebensentwurf mit der gewordenen Lebensgestalt in Einklang bringen. „Leben läßt sich nur rückwärts verstehen, muß aber vorwärts gelebt werden.“ (Søren Kierkegaard 1813–1855)
Wer wirklich gelebt hat, kann auch loslassen; wer noch gar nicht angefangen hat zu leben, fürchtet sich vor dem Sterben. „Greifen und festhalten konnte ich von Geburt; teilen und schenken mußte ich lernen; jetzt übe ich das Lassen.“ (Kyrilla Spiecker 1916-2008) Das Eigene zu sehr festzuhalten verhindert den Blick auf morgen.
Zu Lebzeiten sind Leib und Seele nicht voneinander zu trennen. Vom Kopf bis zum Fuß ist der menschliche Organismus durchseelt. Die Seele erweckt den Leib zum Leben. Wer einen Sterbenden erlebt hat, kann sich vorstellen, daß es eine Seele gibt. Es erübrigt sich zu fragen, wo der Leib aufhört und die Seele anfängt. Im Sterben sind beide voneinander losgelöst. Man kann den Leib exakt vermessen, aber man erfaßt absolut nicht, was sich hinter ihm verbirgt.
Für die einen ist die Seele unsterblich, für andere ist sie eine Funktion des Großhirns. Die Seele ist der Grund, warum ein Mensch lebt. In der Schöpfungsgeschichte bläst Gott dem Menschen seinen Atem ein. Im ersten Schrei des Neugeborenen wird die Seele wahrgenommen. Geboren werden bedeutet, eine Seele zu haben. Man kann uns das leibliche Leben nehmen, aber nicht die Seele. Ein indischer Meister formulierte: „Wir sind spirituelle Wesen, die die Erfahrung eines menschlichen Lebens machen, und nicht Menschen, die eine spirituelle Erfahrung machen.“ Die Seele ist der Ort in uns, wo die Liebe wohnt. Sie verweist schon immer über die Zeitlichkeit und Begrenztheit hinaus.
Raum und Zeit bilden die Bühne für das Schauspiel des Seins. Im Tod werden sie eins; denn die Gegenwart des Todes kennt weder räumliche noch zeitliche Grenzen. Der Tod ist der Knecht der Zeit und holt den Menschen aus der Zeit in die Ewigkeit, in die eigentliche Heimat zurück, in der alles Sterben ein Ende hat. Es gibt Rituale des Abschieds für den Sterbenden und für die Hinterbliebenen, die den Verlust des Lebens faßbarer und erträglicher machen. Der Tod trennt, zerstört aber nicht die innere Verbundenheit. Das Geheimnis des Todes besteht in der Verwandlung. Er verwandelt uns in einem Maß, für das unser gewöhnliches Vorstellungsvermögen nicht ausreicht. Da wir vor unserer Geburt im Gedanken Gottes schon seit Ewigkeit leben, ist das Sterben eine Art Rückkehr in eine enge Verbundenheit, die wir zu Beginn des irdischen Lebens verlassen haben.
Ich heiße es gut, daß ich da bin; ich nehme die Verantwortung dafür an und bin dankbar. Es ist nötig, der eigenen Existenz nachträglich die Zustimmung zu geben; die Eltern im nachhinein zur Zeugung zu legitimieren und zu erkennen, schon immer im Gedanken Gottes gelebt zu haben.
Ich kann nicht an eine jenseitige Welt glauben wie an einen fernen Trost. Sie ist für mich wie eine Energie in dieser Welt; wie ich sie erlebe, ist sie stets vorhanden. Die Ewigkeit umgibt mich schon jetzt, nur sind meine Augen gehalten. Die Transzendenz ist für mich der Horizont des Diesseitigen.
Der Tod ist nicht das Gegenteil von Leben, sondern ein Aspekt des Lebens. Wir sterben, weil wir leben. Alles Leben mündet in den Tod, der Tod aber mündet wiederum in das Leben. Leben und Tod fallen in einem „Höheren Dritten“ zusammen. Leben heißt, dem Tod vorauseilen. Die Unausweichlichkeit des Todes hat als Kehrseite die Unausweichlichkeit des Lebens. Dem Tode bestimmt, dem Leben gewidmet. Man kann dem Tod in unterschiedlicher Weise begegnen, und zwar indem man ihn akzeptiert, leugnet oder bekämpft. „Wenn ich dieses Leben überlebe, ohne zu sterben, sollte mich das überraschen.“ (Mullah Nasruddin 13./14. Jh.)
Heute steht häufig nicht mehr die Sterbebegleitung im Vordergrund, sondern der Versuch, das Leben zu retten und den Tod zu vermeiden. Die Haltung des Menschen zum Tod ist eine Frage danach, wie er sich generell versteht. Wir sind hier in der Hand des Todes bis wir im Sterben in eine Welt des Ewigen Lebens kommen. Dem Glaubenden hilft es sehr, daß er in Gott seit Ewigkeit lebt. Nur aus dem Tod kommt die Auferstehung.
Tod als Hüter der Schwelle: Der Tod führt mich an die Schwelle und hilft mir auch hinüber. „Einschlafen dürfen, wenn man das Leben nicht mehr selbst gestalten kann, ist der Weg zur Freiheit und Trost für alle.“ (Hermann Hesse 1877–1962) Ich möchte im Sterben der Natur ihren Lauf lassen und wünsche keine lebensverlängernden Maßnahmen wie Reanimation oder Infusionen. „Sie [die Sterbenden] können aufhören zu essen und zu trinken. Das machen sterbewillige Menschen seit 10.000 Jahren. Und sie können Nein sagen zu einer Behandlung.“ (Matthias Gockel * 1970)
Auch Ordenschristen und Priester tun sich in der Regel schwer mit dem Sterben. Aber häufig sterben sie trotz Angst und Leiden in Frieden, was offensichtlich von Gott geschenkt wird, wenn im Sterben letztlich die Aussöhnung mit dem ganzen Leben erfolgt.
In der Erdbestattung kommt die Würdigung des Leibes stärker zum Ausdruck als bei einer Urnenbestattung, wobei die Urne oftmals wie ein Sarg behandelt wird. Das gemeinschaftliche Ritual einer Bestattung ist die Voraussetzung für die Entstehung von Sakralität. Aus Toten werden Ahnen.
Mir ist es nicht egal, wie ich zu Asche, die eigentlich Sternenstaub ist, zerfalle. Ich möchte nicht, daß in den irdischen Lauf eingegriffen wird. Verwesen ist derjenige Vorgang, bei dem sich das ungeschaffene Wesen von seiner als Lebewesen geschaffenen Form löst und sich dem großen Sein anheimgibt. Das Geformte sinkt in das zurück, woraus es geschaffen wurde: Sternenstaub zu Sternenstaub.
„Das kluge Kind: ‚Kannst du einen Stern anrühren?’, fragt man es. ‚Ja’, sagt es, neigt sich und berührt die Erde.“ (Hugo von Hofmannsthal 1874-1929)
„Entsprechend den quantenphysikalischen Grundprinzipien der Potentialität dürfte es angemessener sein, jede Beschaffenheit einer Weiterexistenz nach dem Tod offenzulassen.“ (Frido und Christine Mann * 1940 u. * 1944) Wenn der ganze Kosmos und das individuelle Leben im Sinne der Evolution Werden und Entwicklungsschritte sind, warum nicht auch das Sterben?
„Es gibt Menschen, die wir in der Erde begraben; aber andere, die wir besonders zärtlich lieben, sind in unser Herz gebettet. Die Erinnerung an sie mischt sich täglich in unser Tun und Trachten, wir denken an sie, wie wir atmen, sie haben in unserer Seele eine neue Gestalt angenommen, nach dem zarten Gesetz der Seelenwanderung das im Reich der Liebe herrscht.“ (Honoré de Balzac 1799-1850)