Das Christentum ist weder vom Himmel gefallen noch wurde es auf Erden neu erfunden
Am Beispiel des Apostels Jakobus des Älteren läßt sich aufzeigen, was aus der Botschaft Jesu und seinen Aposteln geworden ist.
Jakobus des Älteren wird heute im Gottesdienst gedacht. Lange Zeit hat man ihn mit Jakobus dem Jüngeren gleichgesetzt. Inzwischen nimmt man an, daß es sich um zwei verschiedene Personen handelt.
Als Dr. Karl Mahlert (1915-200?) erfuhr, daß ich mich mit Rolf Leglers Buch „Sternenstraße und Pilgerweg, Der Jakobs-Kult von Santiago de Compostela, Wahrheit und Fälschung“ beschäftigte, ließ er mir dankenswerterweise seinen im Januar 2001 bei der am Jakobustag 1656 gegründeten Jakobusbruderschaft Bremen gehaltenen Vortrag zukommen.
Rolf Legler
Sternenstraße und Pilgerweg, Der Jakobs-Kult von Santiago de Compostela, Wahrheit und Fälschung, Bergisch-Gladbach, 1999
Link zum Buch
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Der sogenannte Camino de Santiago verläuft auf einer megalithischen Kultstraße, in der Nähe des 42. Breitengrades. Nach einem legendären Traum Karls des Großen (747/748-814) nennt man sie auch „Sternenstraße“. Diese verbindet das Mittelmeer mit der Atlantikküste. Deswegen endet für viele Pilger der Weg auch nicht in Santiago, sondern erst am Kap Finisterre.
Wie bei vielen Heiligen ranken sich auch um Jakobus den Älteren zahlreiche Legenden, wie zum Beispiel sein siegreiches Auftreten als Matamoros (Maurentöter) in der frei erfundenen Schlacht von Clavigo. Entscheidend für den Wallfahrtskult ist die Legende um die Auffindung seines Grabes in Santiago de Compostela.
Vieles, an dem wir heute festhalten, beruht auf vorchristlichen Kulturen, so auch die Darstellung der Drei Nornen. Der durchaus gängige Begriff „heidnisch“ gefällt mir persönlich nicht; denn alle Menschen haben, nachdem sie zu Bewußtsein kamen, eine höhere Macht als göttlich verehrt. Das Christentum kann man höchstens eine der Kronen dieser Entwicklung bezeichnen.
Das christliche Weihnachtsfest geht zurück auf das Fest des Sol Invictus, des unbesiegbaren Sonnengottes der Römer. Bis zur Farbe hin haben die christlichen Bischöfe nach und nach die Gewänder der römischen Senatoren übernommen.
Wie oben erwähnt, ist das Christentum also nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich neben der Botschaft Jesu auch aus vorchristlichem Brauch entwickelt.
Möchten alle Menschen, die an etwas Transzendentes, also Göttliches, glauben, erkennen, daß es nur einen Gott gibt, der in uns lebt und in dem wir leben, wie auch immer sie ihn benennen.
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Karl Mahlert,
Rede auf den Heiligen Jakobus anläßlich der Rechnungsablage am 18. Januar 2001
Liebe Brüder,
ich möchte zu Ihnen sprechen über das Thema
Entzauberung einer Legende.
Beim Nachlesen der Protokolle unserer Bruderschaft stieß ich auf eine Bemerkung, die Bruder Schütte am 25. November 1993 gemacht hat, als ich die Transkription unseres alten Buches von 1656 vorlegte: „Das Buch mit den sieben Siegeln ist nun erschlossen; welches Mysterium bleibt künftig den Brüdern noch“?
Ich fürchte, daß ich mit meiner heutigen Rede einen weiteren Beitrag zur Entzauberung unseres Heiligen bringen werde, womit ich auch die letzten Illusionen von dem zerstöre, was wir bisher für wahr gehalten haben und was auch so schön ist.
Rationalist, der ich nun einmal bin, reizte es mich, als Hobbyhistoriker der neuesten Forschungsdiskussion nachzugehen und vor Ihnen auszubreiten.
Das Ergebnis im Résumee:
Es war alles ganz anders, als wir bisher geglaubt haben.
- In Santiago hat es nie ein Jakobusgrab gegeben.
Das hat die Archäologie nachgewiesen. Bis auf den gewachsenen Fels unter der Krypta der Kathedrale sind inzwischen Grabungen durchgeführt worden, ohne daß auch nur die Spur eines irgendwie gearteten antiken Grabes gefunden worden wäre. Ein solches hat an dieser Stelle auch nie bestanden. Das Grab des Heiligen in Santiago ist eine Erfindung. Ja, der Heilige selbst ist eine Kunstfigur, die gezielt und mit den Propagandamitteln der damaligen Zeit, nämlich den Legenden, in Wort, Schrift und Bild verbreitet worden ist.
Für die Gläubigen des frühen 9. Jahrhunderts hatte diese Art der 'Erfindung' durchaus nichts Anrüchiges oder Unehrenhaftes. Damals wurde dieser Darstellung geglaubt. Anders als bei uns Rationalisten des 21. Jahrhunderts wurde der Glaube nicht den Tatsachen gegenübergestellt. Der Glaube war weitreichend genug, um auch die Fakten miteinzuschließen.
Die Wirkung war gewaltig. Die Wallfahrt zu dem nicht existierenden Apostelgrab wurde die große Massenbewegung des Mittelalters. Sie beeinflußte Politik und Religion, Brauchtum und Architektur und sie spielte Geld in die Kassen. Sie hat bis heute ihre Faszination nicht verloren.
- Die Jakobuslegende geht auf vorchristliche Kulturen zurück.
Nach den neueren Erkenntnissen ist die Überführungslegende des Heiligen Jakobus mit Versatzstücken aus anderen Heiligenlegenden angereichert worden. Um glaubhafter zu wirken, wurden dabei lokale Informationen eingebaut. Setzt man die Überführung der Gebeine des Jakobus mit der Christianisierung Nordspaniens gleich und sieht man in den legendären Apostelschülern nichts anderes als die Missionare der neuen christlichen Religion, dann enthält der geheimnisvolle Bericht von der Überführung der Gebeine des Heiligen recht zuverlässige Informationen. Aus ihnen erklärt sich, warum gerade Santiago de Compostela der Ort geworden ist, an dem sich die Jakobuslegende gebildet hat.
In dem direkten Umfeld von Santiago gab es nämlich drei hochrangige heidnische Heiligtümer.
- Ein Sonnenheiligtum auf dem Pico Sacro, 9 km südöstlich von Compostela. Auf diesem Berg der Steineichen weideten heilige Rinder und ein Drache beschützte das Ganze. Mit Hilfe Gottes wurden Rinder und Drache gezähmt und das Heiligtum zerstört.
- An der Küste bei Mar ariae, der Bischofssitz Iria Flavia, bestand ein uraltes Quellenheiligtum. Es wurde ebenfalls vom Christengott zum Einsturz gebracht.
- Ein drittes, genau beschriebenes Heiligtum mit Palast und vielen Götzenbildern bestand an dem Ort, an dem später der Heilige Jakobus Einzug hielt. Es wurde behütet von der vorkeltischen Gottheit Lup(ori)a. Diese böse Fee Lupa wurde zum Christentum bekehrt, ihr Palast in eine Kirche umgewandelt und ihr Mausoleum zum Apostelgrab umgestaltet.
Doch damit nicht genug der neuen historischen Deutungen:
- Der Camino ist eine megalithische Kultstraße.
Die Häufung von drei so bedeutenden Heiligtümern auf engstem geografischem Raum ist keineswegs zufällig. Sie alle liegen auf oder in der Nähe des 42. Breitengrades, an dem entlang die sogenannte Sternenstraße verläuft. Diese verbindet das Mittelmeer mit der Atlantikküste. Auf mehr als 1000 km Gesamtlänge berührt sie zahllose vorchristliche heilige Orte bzw. Kultstätten.
Das alles hatte große historische Konsequenzen. Als König Alfons II. 825 das nördliche Galizien endgültig den Mauren entrissen hatte, mußte das wiedergewonnene Land christianisiert werden.
Da die alteingesessene Bevölkerung aber bis zu diesem Zeitpunkt weder keltisiert noch romanisiert worden war, lebte die Idee der Sternenstraße als christliche Pilgerstraße weiter. Zeugnis dafür ist z. B. das Dach des (gerade restaurierten) Karlsschreins in Aachen, auf dem der Apostel Jakobus Karl dem Großen im Traum erscheint und ihn unter Hinweis auf die doppelte Sternenstraße am Himmel zuruft: Karl, erhebe dich, komm, ich will dir Galizien schenken. - Karl ist nie bis nach Galizien gekommen!
Die uralten Ritualstraßen rechtfertigen die Vermutung, daß die Megalithiker von der Atlantikküste und die Bandkeramiker im Landesinneren in lebendigem kulturellem und religiösem Austausch miteinander standen. Im nordspanischen Jakobsweg hat so eine Initiationsstraße in christlicher Form überlebt. Unter diesem Aspekt haben die Technokraten in Brüssel dem Camino zu Recht den Namen 'Erste Kulturstraße Europas' verliehen.
Konsequenz für die Geschichtsschreibung.
Ich lasse dahingestellt, ob diese neuen Erkenntnisse über die Jakobustradition der Weisheit letzter Schluß darstellen. Manches mag noch hypothetisch erscheinen. Geschichte muß eben immer wieder aufs Neue erforscht und 'erzählt' werden. Meiner Darstellung liegt das Buch von Rolf Legler zugrunde 'Sternenstraße und Pilgerweg, Der Jakobs-Kult von Santiago de. Compostela, Wahrheit und Fälschung, Bergisch-Gladbach 1999'. Ich habe es in unsere Truhen eingefügt.
Fest steht jedoch: Die Geschichte des Jakobuskultes muß neu geschrieben werden.
Die bisherige Darstellung reicht nur bis zu der legendären Translation des Heiligen nach Santiago zurück. Es hat aber an diesem Ort schon viel früher eine religiöse Tradition gegeben, aus christlicher Sicht eine heidnische. Diese ist mindestens in Teilen von der christlichen Legende rezipiert worden.
Die Absorbierung heidnischer Vorstellungen und Bräuche durch die christliche Kirche hat im Übrigen auch auf anderen Gebieten stattgefunden. Ich nenne nur:
* Die Gestaltung der christlichen Feste beruht auf heidnischer Übung. So liegt das Weihnachtsfest auf dem Termin des Sol invictus der Römer.
* Die Jungfrauengeburt Christi entspricht älteren Vorstellungen aus anderen Kulturen (Ägypten, Griechenland).
* Der heidnische Heroenkult wird zum Heiligenkult der Kirche umgestaltet.
* Die Ornate der römischen Senatoren werden nach und nach von den christlichen Bischöfen übernommen.
Historisch gesehen war das Christentum eben nicht irgendwann einfach einmal da, sozusagen vom Himmel gefallen. Es hat sich vielmehr nach Art einer Metamorphose aus Früherem entwickelt.
Die Heiligenlegenden erweisen sich damit als das Ergebnis einer Gemengelage aus heidnischen Resten, Heiligenverehrung und tatsächlichem Geschehen. Historische Tatsachen können daraus nicht abgeleitet werden. Die Legenden dienten vielmehr - wie gesagt - als Propagandamittel für die Verbreitung christlicher Vorstellungen.
Konsequenzen für unsere Bruderschaft.
Nach dieser Ernüchterung müssen wir Abschied nehmen von den uns so lieb gewordenen Geschichten des Matamoros in der Schlacht von Clavigo (sie hat nie stattgefunden), von all den Wundern aus der Legenda aurea, der Anlandung des Leichnams am Kap Finisterre und vielem anderem.
Zu Recht müssen wir damit aber auch die Frage unseres Bruders Schütte stellen: Welches Mysterium bleibt damit den Brüdern noch? Geht nicht unsere ideelle Daseinsgrundlage verloren? Sind wir als Bruderschaft nur noch ein Verein, der einer antiquierten Tradition huldigt, ein wenig Gutes tut und im Übrigen den Freuden der Tafel frönt, neuerdings auch auf Reisen mit den Schwestern? Können wir in Zukunft überhaupt noch eine Rede auf unseren Heiligen halten?
Für eine Beantwortung dieser Frage verweise ich zunächst auf die Tatsache, daß gerade unsere Bruderschaft seit ihrer Gründung 1656 bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kaum in der Legendenwelt der Jakobustradition gelebt hat: Keine Reisen nach Santiago, keine Reden auf den Heiligen. Lediglich die Gründung am Jakobustag 1656 weist auf unseren Namensgeber hin. Was wir mehr als drei Jahrhunderte hindurch nicht gehabt haben, können wir auch nicht verlieren.
Wichtiger erscheint mir als Antwort die Tatsache, daß die Jakobuslegende einen Ausdruck des Christlichen im Mittelalter darstellt, des Christlichen, das das Abendland entscheidend geprägt hat bis in die heutige Zeit hinein.
Fühlen wir aufgeklärte Menschen von heute uns doch nicht so erhaben über die Sehnsüchte des Mittelalters! Die bestehen auch heute noch unvermindert weiter. Wer sich im vergangenen Sommer auf den Petersplatz in die Scharen der Besucher mischte, der Gläubigen und Skeptiker aus allen Erdteilen, die im Heiligen Jahr 2000 nach Rom strömten, zur Totenstadt des Apostels Petrus, der kann nicht unberührt bleiben von den Fragen nach dem Woher und dem Wohin der christlichen Welt.
Wer von uns Heutigen will auch schon sagen, daß die christliche Botschaft 'wahr' ist in dem Sinne, daß der Glaube daran Vergebung der Sünden und ewige Seligkeit beschert (so wie das die Santiago-Pilger erhofften)? Die Behauptung der Wahrheit des Christentums ist wie in jeder Religion eine Sache persönlicher Entscheidung. Aber auch der, der die christliche Heilslehre für sich ablehnt oder zu ihr keinen Zugang findet, wird die historischen Proportionen von weltgeschichtlicher Leistung des Christentums nicht leugnen können.
Er wird dabei zwar nicht die Augen verschließen vor manchem Versagen der christlichen Kirchen, etwa in der Inquisition, dem Gewissenszwang, den Kreuzzügen und der Zwangsmissionierung. Aber viel schwerer wiegen doch die geistigen und kulturellen Leistungen, die das Christentum hervorgebracht hat. Christliche Kultur und ihre säkularen Triebe zeigen eindrucksvoll, was die bessere, höhere Bestimmung des Menschen ist in der Beziehung zum Nächsten, weg vom Ego. Diese christliche Ethik ist heute notwendiger denn je; denn wir leben in einer Zeit verworrener Ziele, aber unbegrenzter Mittel (A. Schweitzer).
Das, liebe Brüder, ist die Geisteswelt, in die wir mit unserer Bruderschaft eingebunden sind. Sie ist es, die unserem Zusammensein auch heute noch Inhalt gibt, auch nachdem ich vom Mythos unseres Heiligen heute abermals einiges abgekratzt habe.
Der Symbolgehalt der Legenden und Reliquien ist für uns Heutige nur schwer verständlich. Aber für den abendländischen Menschen sind beide ein Gleichnis für das Werden, das Vergehen und das Überleben des Menschengeschlechts.
Ist das nicht Mysterium genug, auch für uns Rationalisten des 21. Jahrhunderts? Ich meine, wir können auch weiterhin auf unseren Heiligen reden!
Liebe Brüder, wenn Sie mich nach alledem nicht als Ketzer und Heiden verdammen, dann bitte ich Sie, mit mir das Glas zu erheben „Auf die Werte, für die der Heilige Jakobus steht.“
Benutzte Literatur
Legler, Rolf, Sternenstraße und Pilgerweg, Der Jakobs-Kult von Santiago de Compostela, Wahrheit und Fälschung, Bergisch-Gladbach, 1999
Legler, Rolf, Alteuropa und der Apostel Jakob, FAZ 24. 7. 1999
Hauschild, Theodor, Archeology and the Tomb of St. James, in John Williams/Alison Stones (eds.), The Codex Calixtinus and the Shrine of St. James, Jakobus-Studien, Tübingen 1992
Gurjewitsch, Aaron J., Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1982
Fuhrmann, Manfred, Rom in der Spätantike, Düsseldorf/Zürich 1998
Fischer, Heinz-Joachim, Im Schutz bewährter Kultur, FAZ 22.8.00