22.5.2021

Das Ganze in Fragmenten

Das große Ganze des ALLEINEN können wir nicht einmal erahnen, geschweige denn uns vorstellen. Alles, was wir wahrnehmen, ist nur ein Fragment, ein Teil des großen Ganzen. Wie groß aber ist die Gefahr, das Teil für das Ganze zu halten. Deutlich macht uns das die Geschichte von der Himmlischen Musik.

Wenn wir uns bewußt machten, daß wir nur ein Teil des Ganzen sind, wäre jeglicher Streit und Kampf überflüssig. Romano Guardini (1885-1968) formuliert: „Mein Leben ist immer nur eine Beziehung von Fragment zu Fragment.“

Im Fragment das Ganze zu sehen, ist bereichernd. Rainer Maria Rilke (1875–1926) im Sonett „Archaischer Torso Apollos“:
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Was für das Außen gilt, gilt auch für den Blick nach Innen. In Rainer Maria Rilkes Werk „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" heißt es:
„Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“