7.11.2023

Das Geschenk des Rabbis

Die Geschichte handelt von einem Kloster, welches gerade schlechte Zeiten erlebte. Es gehörte zu einem einstmals großen Orden, aber infolge von wiederholter antiklösterlicher Verfolgung im 17. und 18. Jahrhundert und durch die aufkommende Säkularisierung im 19. Jahrhundert wurden alle Bruderhäuser zerstört, und es waren schließlich nur noch fünf Mönche im verfallenden Mutterhaus übriggeblieben: der Abt und vier andere, alle über 70 Jahre alt. Es war eindeutig ein sterbender Orden. In den tiefen Wäldern, die das Kloster umgaben, lag eine kleine Einsiedlerhütte, die ein Rabbi aus einer nahegelegenen Stadt manchmal als Rückzugsort benutzte. Durch die vielen Jahre des Gebets und des Nachdenkens waren die Mönche ein wenig hellsichtig geworden, sodass sie immer spürten, wenn der Rabbi in seiner Hütte weilte. "Der Rabbi ist im Wald, der Rabbi ist wieder im Wald" flüsterten sie einander zu. Als der Abt sich wieder einmal über das Sterben des Ordens den Kopf zermarterte, ging er zur Hütte des Rabbis um zu fragen, ob er nicht einen Rat wüsste, der das Kloster retten könnte. Der Rabbi hieß den Klostervorsteher in seiner Hütte willkommen. Aber als der Abt den Grund seines Besuchs erklärte, konnte er nur mitfühlend ausrufen: "Ich weiß, wie es ist. Der Geist ist aus den Leuten gewichen. In meiner Stadt ist es fast genauso. Niemand kommt mehr in die Synagoge." So weinten der alte Abt und der alte Rabbi miteinander. Dann lasen sie gemeinsam die Thora und sprachen über Dinge, die sie tief bewegten. Es kam die Zeit, wo der Abt gehen musste. Sie umarmten sich. "Es war wunderbar, dass wir uns nach all den Jahren hier trafen", sagte der Abt, "aber ich trage immer noch Sorge im Herzen. Gibt es wirklich nichts, was du mir raten könntest, keinen Hinweis, wie ich den sterbenden Orden retten könnte?" "Nein, es tut mir Leid", erwiderte der Rabbi, " ich habe keinen Rat. Das Einzige, was ich euch sagen kann, ist, dass der Messias einer von euch ist." Als der Abt zum Kloster zurückkehrte, versammelten sich seine Mönche um ihn und fragten: "Was hat der Rabbi gesagt?" "Er konnte nicht helfen", antwortete der Abt. "Wir haben zusammen geweint und die Thora gelesen. Das Einzige, was er sagte, gerade als ich gehen wollte, war geheimnisvoll: dass der Messias einer von uns sei. Ich weiß nicht, was er damit meinte." In den Tagen, Wochen und Monaten danach grübelten die alten Mönche darüber nach und fragten sich, ob es irgendeine Bestätigung für die Worte des Rabbi gäbe. "Der Messias ist einer von uns? Kann er wirklich einen Mönch aus diesem Kloster gemeint haben? Wenn das so ist, welcher ist er? Meinst du, er hält den Abt dafür? Ja, wenn er jemand meinen könnte, dann den Vater Abt. Er ist unser Leiter seit mehr als einer Generation. Auf der anderen Seite könnte er auch Bruder Thomas gemeint haben. Er ist mit Sicherheit ein heiliger Mann. Jeder weiß, dass Bruder Thomas ein Mann des Lichts ist. Natürlich kann er nicht Bruder Elred gemeint haben. Elred ist manchmal sehr sonderbar. Aber wenn man genau darüber nachdenkt, auch wenn er oft nicht gerade umgänglich ist, so liegt doch viel Weisheit in dem was er sagt. Vielleicht meint der Rabbi Bruder Elred. Aber mit Sicherheit nicht Bruder Philipp. Philipp ist so unscheinbar, so in sich gekehrt. Dafür ist er immer da, wenn man ihn braucht. Er erscheint auf magische Weise immer zur richtigen Zeit. Vielleicht ist Phillip der Messias. Aber mit Sicherheit meint der Rabbi nicht mich, niemals. Ich bin nur ein ganz normaler Mensch. Aber angenommen, er hält doch mich für den Auserwählten? Denk mal, wenn ich der Messias wäre! Oh Gott, nicht ich. Ich kann nicht so bedeutsam sein, oder?" Nun begannen die alten Mönche, sich gegenseitig außerordentlich respektvoll zu behandeln, wegen der Möglichkeit, dass einer von ihnen der Messias sein könnte. Und weil jeder Mensch unwissentlich selbst der Heilsbringer sein könnte, behandelten sie sich auch selbst mit großem Respekt. Da der Wald um das Kloster so schön war, kamen gelegentlich Ausflügler zu Besuch, um auf dem kleinen Rasen zu picknicken, auf den stillen Wegen zu wandern, oder dann und wann in der verfallenen Kapelle zu meditieren. Hier fühlten sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, diese Aura des tiefen Respekts, die nun die fünf Mönche ausstrahlten und den ganzen Platz umhüllte. Es war daran etwas seltsam Anziehendes, ja sogar Unwiderstehliches. Kaum wissend warum, kamen die Besucher immer wieder zurück zum Kloster um zu picknicken, zu wandern und zu beten. Sie brachten ihre Freunde mit, um ihnen diesen besonderen Platz zu zeigen. Dann begannen einiger der jüngeren Männer, die zu Besuch kamen, mehr und mehr mit den alten Mönchen zu sprechen. Nach einer Weile fragte einer, ob er sich anschließen könnte. Dann noch einer. Und noch einer. Innerhalb von ein paar Jahren wurde das Kloster wieder zu einem blühenden Ort, und das des "Geschenks des Rabbis" ein vibrierendes Zentrum des Lichts und der Spiritualität in dieser Gegend.

Quelle: Homepage MännerBücherRaum Das Geschenk des Rabbis