1.1.2021

Das Lebensrad als Bild unseres Daseins

„Es folgen einander die Zeiten,
Der Sommer vergeht und kehrt wieder.
Ein Taglauf verdrängt den anderen
Und dreht einem Rad gleich den Erdkreis.
Vergehen muß alles, doch dauert
Der Heiligen Herrlichkeit ewig
In Christus, der alles erneuert,
Doch selber unwandelbar bleibt.“
Paulinus von Nola (um 353-431)

Um das Haupt Christi im Zentrum des Bildes läuft in lateinischer Sprache die Inschrift
„Ich sehe immer alles und regiere mit Weisheit“.

Durch die Strahlen mit Christus verbunden, zeigen die zehn Medaillons den Lauf des menschlichen Lebens von der Geburt bis zum Tod.
In den Ecken sind die vier Lebensalter personifiziert.

Die Inschriften um die zehn Medaillons lauten (im Uhrzeigersinn, beginnend links unten):

„Sanft bin ich und klein: Ich lebe von reiner Milch.“

„Niemals werde ich wanken: Ich messe mein Alter.“

„Mein Leben entspricht der Welt: Im Spiegel wird es geprüft.“

„Nicht das Spiegelbild, aber das Leben ist fröhlich.“

„König bin ich, ich regiere die Zeit: Die ganze Welt ist mein.“

„Ich nehme mir einen Stab: Beinahe dem Tod bekannt.“

„Der Altersschwäche ausgeliefert: Der Tod wird mein Los sein.“

„Der Krankheit ausgeliefert: Ich beginne nicht mehr zu sein:“

„Man glaubt, ich würde leben: Das Leben hat mich betrogen.“

„Verwandelt bin ich in Asche: Das Leben hat mich betrogen.“

„Eingefaßt vom göttlichen Feuer, ruht mitten im Herzen der Schöpfung die Erde: Der Lebenskreis und die Heimat des Menschen, in der er seine Werke vollbringt und sein Leben vollendet.

Er ist bestimmt von den Zeiten des Jahres und gestaltet sie so, wie die Ordnung der Welt es vorschreibt. Nach seinem Bild und seiner Ähnlichkeit hat Gott die Gestalt des Menschen gebildet, weil er will, daß die Gestalt des Menschen die heilige Gottheit einhülle. Mit seinem Kreislauf ohne Anfang und Ende ist es ein Sinnbild für das Ewige wie für das Zeitliche.“

So sieht Hildegard von Bingen (1098-1179) diesen Lebenskreis.
Sie sitzt in ihrer Klosterzelle (links unten) und schreibt nieder, was ihr die „Stimme vom Himmel“, dargestellt durch die Hand Gottes mit dem weißen Streifen, offenbart.

 

Ich bin ein Gast auf Erden

„Ich bin ein Gast auf Erden (Psalm 119,19a) – damit bekenne ich, daß ich hier nicht bleiben kann, daß meine Zeit kurz bemessen ist. Auch habe ich hier kein Anrecht auf Besitz und Haus. Alles Gute, das mir widerfährt, muß ich dankbar empfangen, Unrecht und Gewalttat aber muß ich leiden, ohne daß einer für mich eintritt. Einen festen Halt habe ich weder an Menschen noch an Dingen. Als Gast bin ich den Gesetzen meiner Herberge unterworfen. Die Erde, die mich ernährt, hat ein Recht auf meine Arbeit und meine Kraft. Es kommt mir nicht zu, die Erde, auf der ich mein Leben habe, zu verachten.
Treue und Dank bin ich ihr schuldig. Ich darf meinem Los, ein Gast und Fremdling sein zu müssen, und damit dem Ruf Gottes in diese Fremdlingschaft nicht dadurch ausweiche, daß ich mein irdisches Leben in Gedanken an den Himmel verträume.
Es gibt ein sehr gottloses Heimweh nach der anderen Welt, dem gewiß keine Heimkehr beschieden ist. … Weil ich aber auf Erden nichts bin als ein Gast, ohne Recht, ohne Halt, ohne Sicherheit, weil Gott selbst mich so schwach und gering macht, darum hat er mir ein einziges festes Unterpfand für mein Ziel gegeben, sein Wort. Dieses einzig Gewisse wird er mir nicht entziehen, dieses Wort wird er mir halten und an ihm wird er mich seine Kraft spüren lassen. Wo das Wort von zu Haus bei mir ist, finde ich in der Fremde meinen Weg, im Unrecht mein Recht, in der Ungewißheit meinen Halt, in der Arbeit meine Kraft, im Leiden die Geduld.“
Dietrich Bonhoeffer (1906-1945)

Quelle: Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937-1940, DBW Band 15, Seite 529 f.