2.11.2021

 

 

 

 

 

De mortuis nil nisi bene – über die Toten Nichts, es sei denn Gutes

Über die Toten soll man nur in guter Weise sprechen.

De mortuis nil nisi bene [dicendum (est)]
„Von Verstorbenen [(ist)] nur in guter Weise [(zu) sprechen]“ – Lateinische Übersetzung der gleichbedeutenden ursprünglich Chilon von Sparta (erste Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. G.) zugeschriebenen griechischen Wendung „Τὸν τεθνηκότα μὴ κακολογεῖν, γῆρας τιμᾶv – Ton tethnēkota mē kakologein, gēras tīmān“.

Dieser Spruch war über Jahrhunderte vollkommen vergessen. Erst 800 Jahre später wurde er dann von Diogenes Laertius (180-240 n. Chr. Ge.) in einem Sammelwerk über das Leben und die Lehren der antiken Philosophen festgehalten.

Über Verstorbene nur Gutes zu sagen, ist nicht schwer, wenn es kaum Schlechtes zu berichten gibt. So sah man zum Beispiel in der Antike Sklavenhaltung, Niederbrennen von Städten und Verkauf der Bewohner in die Sklaverei nicht als etwas Schlechtes an.

Bei den Christen haben die Toten nicht allzu gut ausgesehen. Das Seelenheil im Jenseits war, wenn überhaupt, nur durch ein der Kirche entsprechendes Leben im Diesseits und viele Qualen im Fegfeuer zu erreichen. Das Christentum brauchte dringend die Vorstellung, der Mensch habe sich etwas zuschulden kommen lassen, um Ablässe zu verkaufen und Spenden und Einnahmen für Seelenmessen zu kassieren.

Mit dem Tod begann die wenig erbauliche Abrechnung im Jenseits, die nur die Gnade der Kirche verkürzen konnte. Dem entsprach nicht die Forderung „De mortuis nil nisi bene“, statt dessen sang man im Requiem die Sequenz „Dies Irae“ als Mozart-Reqiem.

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Kein Irdischer wird jemals wissen, was uns Menschen nach unserem Tod erwartet

Werner A. Wolf

Der kluge Kaiser
Vor Zeiten herrschte im alten China ein mächtiger Kaiser, der wollte, als er alt geworden war und sein Ende nahen fühlte, wissen, was den Menschen nach seinem Tod im Jenseits erwarte. Er rief deshalb alle Gelehrten und Weisen seines riesigen Reiches in seinen Palast und befahl ihnen, bei allem Volk, ob arm oder reich, hoch oder nieder, klug oder dumm, nachzuforschen, ob einer von ihnen aus eigener Erfahrung über das Leben nach dem Tode etwas berichten könne. Bei dem riesigen Volk müsse es doch den einen oder anderen geben, der von drüben zurückgekehrt sei. Meinte der Kaiser.

Nach einem Jahr sollten sich die Versammelten zur gleichen Zeit im Palast erneut einfinden und vom Ergebnis ihrer Nachforschung berichten. Wer aber keinen Erfolg gehabt habe und nichts zu sagen habe, der solle des Todes sterben, denn dann könne er am eigenen Leibe erfahren, wie es dort drüben zugehe.

Da erschraken die Gelehrten und Weisen sehr. Sie machten sich aber auf den Weg und schwärmten aus.

Pünktlich nach einem Jahr traten sie erneut vor den Kaiser. Keiner hatte Erfolg gehabt, keiner konnte etwas berichten und keiner wollte sterben!

Aber ein jeder hatte sich eine Geschichte ausgedacht und zurechtgelegt. Einige berichteten, ein Zurückgekehrter habe drüben erfahren, daß der Mensch nach dem Tode in eine wunderbar überirdische, lichte Welt eingehe, wo es weder Streit noch Neid gebe und ewiger Friede herrsche. Andere wieder wollten gehört haben, jeder Mensch werde nach seinem Ableben von allen seinen Angehörigen und Freunden freudig empfangen und in diese Gemeinschaft wie im irdischen Leben wieder aufgenommen. Eine dritte Gruppe meinte, jeder Verstorbene kehre nach einer Zeit der Läuterung und Meditation auf die Erde zurück.

So gab es noch viele Meinungen, und bald brach zwischen den Gelehrten und Weisen ein lautes Gezänk und Geschrei darüber aus, wer wohl die Wahrheit gefunden habe; sie nannten sich gegenseitig Lügner und Betrüger, und bald herrschte im Kaiserpalast ein wildes Chaos.

Der alte Kaiser aber war des schrillen Gezeters bald überdrüssig und befahl, die ganze Gesellschaft in den Kerker zu werfen. Da trat ein alter, weißhaariger Mann vor und bat um Gehör. Der Kaiser hob seine Rechte, und alles verstummte. Es war ganz still.

„Herr“, sagte der Alte, ,,ich lebe schon viele Jahre auf dieser Erde, ich bin ein alter Mann, und der Tod schreckt mich nicht. Mir ist es gleich, ob Ihr mich richten laßt, wenn ich Euch die Wahrheit sage. Alles, was Ihr bisher gehört habt, dient den Erzählern nur dazu, ihr Leben zu retten, denn kein Irdischer wird jemals wissen, was uns Menschen nach unserem Tod bevorsteht. Und wer darüber berichtet, lügt. Hört diese Fabel:

Auf dem Grund eines Teiches leben häßliche und bösartige Larven. Wenn ihre Zeit gekommen ist, steigt jede einzelne Larve aus dem Wasser, um niemals zurückzukehren. Jede Larve verspricht aber, den Zurückbleibenden darüber zu berichten, was nach dem Verlassen des Teiches geschehen ist. Denn die Frösche hatten das Gerücht verbreitet, daß sich jede Larve auf der anderen Seite der Welt nach einer Zeit der Verpuppung in eine wunderschöne Libelle mit grazilem Leib und buntschillernden Flügeln verwandeln wird. Aber keiner Libelle wird es je möglich sein, wieder auf den Grund des Teiches zurückzukehren, um den Zurückgebliebenen Kunde zu bringen.

Und so wissen die Libellenlarven bis zum heutigen Tag ebensowenig wie wir Menschen, was nach dem Übertritt in die andere Welt geschehen wird, denn der Tod ist das größte Geheimnis des Lebens.“

Nach der Rede des alten Mannes war der Kaiser sehr nachdenklich geworden, er saß in sich gekehrt auf seinem goldenen Thron und bewegte die Parabel in seinem Herzen. Und weil er nicht nur ein gestrenger, sondern auch ein kluger Kaiser war, ließ er den Greis nicht richten, vielmehr lobte er ihn und machte ihn wegen seiner Weisheit zu einem seiner Ratgeber.

Die scheinheilige Gesellschaft der Gelehrten und Weisen aber jagte er mit Schimpf und Schande aus seinem Palast.

Siehe auch Der Herrscher und der Narr ergänzen sich.