28.1.2020

Der goldene Drache

Seit undenklichen Zeiten gibt es den Drachenmythos. Zwei gegensätzliche Aspekte sind mit diesem Tier verbunden: einerseits seine gefährliche und zu bekämpfende Natur, andererseits sein in Hochachtung zu befragendes Wesen.

Der Begriff „Drache“ leitet sich ab von dem griechischen Substantiv δράκων drakon – Feuer aus den Augen strahlend/Schlange. Der Drachen hat in den meisten Mythen Schuppen.

Das Bild des Drachenkampfes verkörpert das ständige Ringen zwischen Chaos und Kosmos, zwischen Daseinsbewahrung und Zerstörung der Lebensbasis.

Wenn er als dämonisch erscheinendes Wesen dargestellt wird, geht es um den Kampf. Im Bild des Drachens als Schutzhüter geht es um die Schätze der Erde und des Kosmos.

Während die Männer, wie zum Beispiel die Heiligen Michael, Georg und Viktor, als Drachentöter dargestellt werden, führen die Frauen, wie zum Beispiel die Hl. Margareta und die Hl. Martha, den Drachen am Bande.

 

Ich war als Junge in einer St. Georgsgruppe und meinte, ich müsse den Drachen töten, lernte dann aber, daß der Drache ein Teil von mir ist, den es zu zähmen gilt. Ich hätte damals gerne schon das Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende (1929-1995) gekannt. Dort bekommt der weibliche Drache Frau Mahlzahn eine goldene Haut.

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

Jim und Lukas machen sich auf die Suche nach der von Frau Mahlzahn in die Drachenstadt entführten Prinzessin Li Si. Dort hält sie auch noch weitere Kinder gefangen. Nach zahlreichen gefahrenträchtigen Abenteuern erreichen Jim und Lukas mit ihrer Lok Emma die Drachenstadt. Es gelingt ihnen, das Ungeheuer zu bezwingen und zu fesseln. Sie führen es mit sich und schließen es in ein altes Elephantenhaus ein. Was sich anschließend ereignet, schildert Michael Ende auf den Seiten 212 bis 214 seines Buches wie folgt:

„Na, was gibt's denn?“, fragte Lukas. Seine Stimme klang unwillkürlich ein wenig freundlicher, als er beabsichtigt hatte.
Der Drache antwortete nicht, rührte sich auch nicht, stattdessen geschah etwas sehr Merkwürdiges. Es war nämlich, als liefe plötzlich von der Spitze der Schnauze über den ganzen riesigen Leib bis zum Schwanzende ein goldener Schimmer.
„Hast du das gesehen?“, flüsterte Lukas und Jim antwortete ebenso leise: „Ja, was kann er nur haben?“
Jetzt öffnete der Drache langsam seine kleinen Augen, die aber nicht mehr wie früher tückisch funkelten, sondern nur noch sehr, sehr müde aussahen.
„Danke, dass ihr gekommen seid“, murmelte der Drache mit schwacher Stimme. „Verzeiht, aber ich kann nicht mehr lauter sprechen. Ich bin so schrecklich müde – so schrecklich müde ...“
„Hör mal, er schnarrt und zischt gar nicht mehr“, flüsterte Jim. Lukas nickte. Dann fragte er laut:
„Sagen Sie, Frau Mahlzahn, Sie werden doch nicht sterben?“
„Nein“, antwortete der Drache und es war, als ob für eine Sekunde ein Lächeln über sein hässliches Gesicht huschte. „Es geht mir ganz gut, macht euch keine Sorgen um mich. Ich habe euch nur rufen lassen, um mich bei euch zu bedanken.“
„Wofür denn?", fragte Lukas, zum ersten Mal genauso verblüfft wie Jim, der vor Staunen wieder mal kugelrunde Augen bekam.
„Dafür, dass ihr mich überwunden habt, ohne mich zu töten. Wer einen Drachen überwinden kann, ohne ihn umzubringen, der hilft ihm, sich zu verwandeln. Niemand, der böse ist, ist dabei besonders glücklich, müsst ihr wissen. Und wir Drachen sind eigentlich nur so böse, damit jemand kommt und uns besiegt. Leider werden wir allerdings dabei meistens umgebracht. Aber wenn das nicht der Fall ist, so wie bei euch und mir, dann geschieht etwas sehr Wunderbares ...“
Der Drache schloss die Augen und schwieg eine Weile und wieder lief dieser merkwürdige goldene Schimmer über seinen Leib. Lukas und Jim warteten stumm, bis er seine Augen wieder öffnete und mit noch matterer Stimme fortfuhr:
„Wir Drachen wissen sehr viel. Aber solange wir nicht überwunden worden sind, fangen wir damit nur Arges an. Wir suchen uns jemand, den wir mit unserem Wissen quälen können – so wie ich zum Beispiel die Kinder. Ihr habt es ja gesehen. Wenn wir aber verwandelt sind, dann heißen wir ,Goldener Drache der Weisheit’ und man kann uns alles fragen, wir wissen alle Geheimnisse und lösen alle Rätsel. Aber das kommt alle tausend Jahre nur einmal vor, weil eben die meisten von uns getötet werden, ehe es zur Verwandlung kommt.“
Wieder schwieg der Drache und zum dritten Mal huscht der goldene Schimmer über ihn hin. Aber diesmal war es, als bliebe eine winzige Spur des Goldes an seinen Schuppen hängen, nur so viel wie der Hauch von Glanz, den man an den Fingern behält, wenn man einen Schmetterling berührt hat. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder seine Augen aufschlug und kaum noch hörbar weitersprach:
„Das Wasser des Gelben Flusses, in dem ich geschwommen bin, hat mein Feuer ausgelöscht. Jetzt bin ich sterbensmüde. Wenn der goldene Schimmer das nächste Mal über mich gehen wird, werde ich in einen tiefen Schlaf versinken und es wird aussehen, als wäre ich tot. Aber ich werde nicht sterben. [...] Nach einem Jahr, von dieser Stunde an, werde ich aufwachen und ein ,Goldener Drache der Weisheit’ sein. Dann kommt zu mir und ich werde euch alle Fragen beantworten. Denn ihr beiden seid meine Herren und was ihr mir befehlt, werde ich tun. Um euch aber meine Dankbarkeit zu beweisen, möchte ich euch schon jetzt einen Gefallen tun. Ein wenig von meiner zukünftigen Weisheit habe ich nämlich schon, wie ihr an dem goldenen Schimmer sehen könnt, der an mir hängen geblieben ist. Wenn ihr also etwas wissen wollt, dann fragt mich. Aber eilt euch, es bleibt wenig Zeit.“

 

Der Drache gibt den beiden einen etwas seltsam klingenden Rat, der sich aber, wie vorausgesagt, genau bewahrheitet. Jim und Lukas bestehen noch zahlreiche Abenteuer und am Ende erstrahlt der Drache in goldener Pracht.

Siehe auch Impuls vom 7. August 2019 „Drache“.