19.4.2023

Der Mensch als Bürger zweier Welten

Aus dem Vortrag „Wesen und Charakter“ von Dr. Wolf Büntig bei den Münchener Gestalttagen 1993:

Wir kommen aus doppeltem Ursprung, wir sind bedingt und unbedingt [Karlfried Graf] (Dürckheim) [1896-1988], wir leben in zwei Wirklichkeiten [Carlos] (Castaneda) [1925-1998], wir sind in der Welt, doch nicht von der Welt (Jesus). In der einen Welt geben wir dem Kaiser, was des Kaisers ist [vgl. Lk 20,25], zahlen Steuern, ernähren uns ausreichend, putzen uns die Zähne, beachten Verkehrs- und Höflichkeitsregeln und so weiter.

In der anderen Welt wissen wir, daß die eine nur ein Traum ist, ein Abbild der Wirklichkeit, die wir in manchen Momenten schmecken. Die eine Wirklichkeit lernen wir durch Mutter und Vater kennen. […] Die andere, die ursprüngliche Wirklichkeit, zeigt sich uns durch göttliche Offenbarung. […]

Die Schriftstellerin Mary Austin [* 1951]  beschreibt ein Gipfelerlebnis aus ihrer Kindheit, in dem die Verbindung zum Religiösen direkt angesprochen ist: „Ich muß zwischen fünf und sechs Jahre alt gewesen sein, als mir diese Erfahrung zustieß. Es war ein Sommermorgen und das Kind, das ich war, war allein durch den Obstgarten hinuntergegangen und kam am Rand des sanft abfallenden Hügels heraus, wo Gras wuchs und der Wind wehte und ein hoher Baum stand, der sich in die unendliche Weite des blauen Himmels reckte.

Nach einer Weile der Stille wurden plötzlich die Erde und der Himmel, der Baum, der wehende Wind, das Gras und das Kind inmitten von alledem miteinander lebendig in einem pulsierenden Licht von Bewußtsein. Ich kann mir die unerwartete, umfassende Bewußtheit alles Einzelnen für das Ganze ins Gedächtnis zurückrufen - ich in allem anderen und alles andere in mir - und wir alle zusammen eingehüllt in eine warme, strahlende Kugel von Lebendigkeit. Ich erinnere mich, wie das Kind überall nach der Quelle dieses Glücks Ausschau hielt. Und endlich fragte es: „Gott?“. Denn Gott war das einzige Wort der Ehrfurcht, das es kannte. Tief innen vernahm es, wie das leise Tönen einer Glocke, die Antwort: „Gott - Gott!“ Wie lange dieser unsagbare Augenblick dauerte, ich weiß es nicht. Er zersprang wie eine Seifenblase, als plötzlich ein Vogel sang; und der Wind wehte, und die Welt war wie immer und doch nie mehr ganz so wie zuvor.“ ·

Link zum gesamten Vortrag