5.7.2019

Der Spiegel und ich

Vor der Herstellung der Spiegelglasscherben (um 1500 in Murano) nutzte der Mensch blank geschliffene Scherben als Spiegel.

Mit schonungsloser Offenheit zeigt der Spiegel, was wir gerne verbergen möchten. In ihm haben wir ein unbestechliches Gegenüber, falls wir ihn nicht schon vorher „bestochen“ haben. Im Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt arbeitet man mit einer veränderten Spiegelfläche, den sogenannten Zerrspiegeln.

Wir sind versucht, den Spiegel, der ein verzerrtes Antlitz zeigt, zu zerbrechen. Aber der Spiegel dient der Erkenntnis. Im Märchen „Schneewittchen“ dient er der Selbstbespiegelung. Till Eulenspiegel hält anderen den Spiegel vor.

Im Leben des Kindes gibt es die Spiegelphase: „Da im Spiegel, das bin ich“. Das Kind beginnt, sich selbst mit „Ich“ zu benennen. Später sind andere Menschen lebendige Spiegel: „So möchte ich auch sein.“ Aber das wäre eine Kopie; sie sollten vielmehr ein Original sein.

Unsere Mitmenschen können für uns aber auch wie ein Spiegel unserer selbst sein. In der Therapie spricht man von „spiegeln“.

Im Gegensatz zum Menschen erkennen sich die meisten Tiere nicht im Spiegel.

Um zu erkennen, wer wir in den Augen Gottes sind, hilft uns kein Spiegel aus Glas. Wir müssen in den Spiegel der Heiligen Schrift schauen. „So sind wir. So könnten wir sein. So sollten wir nicht sein.“

Religiöse Erziehung sollte zu uns selbst führen und nicht von uns weg. „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.“ (1 Kor 13,12)