23.9.2021

Die „bösen“ und die „guten“ Nackten (1)

Nacktsein ist ambivalent

Die guten und die bösen Nackten im Fries des Tympanons der Kathedrale von Autun/F

In der unterschiedlichen Erfahrung des Lebens liegt seine Ambivalenz. Dieser Begriff geht zurück auf das lateinische Adjektiv „ambo = beide“ und das Verb „valere = gelten, stark sein“. Ambivalenz bezeichnet eine Doppelwertigkeit, oft im Sinne von Zwiespältigkeit, wie zum Beispiel Habenwollen oder Loslassen. Ambivalent ist eine Wirklichkeit, die in sich Gesichtspunkte aufzeigt, von denen jeder in bezug auf seine Wertigkeit, in unterschiedliche Richtung weist. Alles hat mindestens zwei Seiten, es kommt auf den Betrachtungsstandpunkt an, welche Seite ich sehen kann und sehen will. So sprechen wir zum Beispiel von „einerseits“ und „andererseits“. Ein bekanntes Beispiel für die ambivalente Betrachtungsweise ist die mit 500 ccm Flüssigkeit gefüllte Literflasche. Diesbezüglich läßt sich mit gleicher Berechtigung sagen: „Die Flasche ist halbvoll“ oder „Die Flasche ist halbleer.“ Je nach Vorliebe oder Abneigung für die Flüssigkeit formuliere ich: „Die Flasche ist schon halbleer“ oder „Die Flasche ist noch halbvoll.“

Ambivalenz ist von Polarität einerseits und Dualismus andererseits zu unterscheiden. Ambivalenz bedeutet: Alles hat zwei Seiten. Polarität heißt: Alles steht in Schwingung zu seinem Gegenpol. Dualismus aber hebt den abgespaltenen Gegenpol einer Sache hervor, und dieser verselbständigte Pol ist eindeutig, also nicht mehr ambivalent. Unter diesen Gesichtspunkten ist die Ambivalenz des Nackten zu sehen.