
29.9.2021
Die „bösen“ und die „guten“ Nackten (5)
Die bekleidete Zivilisation
Aus den Unterlagen eines Kursteilnehmers:
In seinem Werk „Der Prozeß der Zivilisation“ beschreibt Norbert Elias (1897-1990) folgenden Umgang mit Nacktheit: Bis ins 16. Jahrhundert war der Anblick völliger Nacktheit die alltägliche Regel. Die Menschen standen dem Körper unbefangen gegenüber; man kann auch sagen kindlich. Die Schlafsitten zeigen das ebenso wie die Badegewohnheiten. Die Sensibilität der Menschen gegenüber allem, was mit ihrem Körper in Berührung kam, wuchs allmählich. Das Schamgefühl haftete sich an Verhaltensweisen, die bisher nicht mit solchen Gefühlen belegt waren. Die Entblößung eines Höherstehenden in Gegenwart eines sozial Niedrigerstehenden galt nicht als anstößig; man konnte sie im Gegenteil als Ausdruck des Wohlwollens empfinden. Das Umgekehrte aber galt als respektlos. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert rückt die Schamgrenze immer mehr vor. Im Prozeß der Zivilisation schreitet die „Intimisierung“ aller körperlichen Funktionen fort, verbunden mit der bürgerlichen Moral, die sich mit Genügsamkeit, Pflichtbewußtsein und Zähmung der Leidenschaften den niederen Klassen überlegen fühlte. Diese Moral wurde auf Grund der Wiederentdeckung des menschlichen Körpers durch die Jugendbewegung ein Problem.
Nicht jeder unbekleidete Körper ist schon erotisch. Erotik wirkt im Bereich des Versteckten, des Flüchtigen. Wo man sie zu dick aufträgt, wird sie zu plakativer Sexualsymbolik. Im Gegensatz zur Pornographie lebt die Erotik vom sanften Rätsel.
Gewisse Formen der Enthüllung sind Verkleidungen der Liebe. Manche wollen die Nacktheit als Mode propagieren, aber diesen geht es nur um eine Befreiung vom Kleiderzwang, um die Freiheit, ausgezogen angezogen zu sein.
Enthüllen und Verhüllen bedeuten Gegensätzliches. Aber beides kann sowohl aus einem positiven Aspekt wie Ehrfurcht geschehen, als auch aus negativen Aspekten wie Obszönität oder Prüderie. Das Bedürfnis, sich zu verhüllen, entsteht bei dem, der seinen Leib nicht als schön empfindet, aus ästhetischen Gründen hält er dann eine Verhüllung für besser. Das gilt vor allem für Körperteile, die tabuisiert sind. Wir leben in einer Zeit, da man viele Tabus bricht. Überall schaut uns Nacktheit an. Da entsteht wie von selbst für viele Menschen, vor allem für Frauen, das Bedürfnis, sich zu verhüllen. Das geben sogar Frauen zu, die viele Jahre von sich Aktfotos haben machen lassen. Sie merken, daß ein verhüllter Leib viel anziehender wirkt als ein entblößter, mag er noch so wohlgestaltet sein. Das verhüllte Bein, das sich beim Tanz anmutig bewegt, hat etwas Geheimnisvolles an sich. Liebende verhüllen sich, um sich einander in Liebe zu entdecken und zu enthüllen.
Außerhalb der intimen Zweisamkeit nährt Nacktheit nur die Illusion von Nähe. Dazu gibt es eine affektive Bereicherung durch ein differenziertes Scham- und Verhüllungsrepertoire. Es bedarf nicht einer ausdrücklich religiösen Überzeugung, um zu wissen, daß gewisse Dinge des privaten Bereichs in der Zivilisation unerträglich und einstweilen auch noch lächerlich sind.
Intimität ist eine bewußte Absonderung auf Zeit, sie setzt Willen und Bereitschaft zur Unterscheidung und zum Rückzug voraus. Die Fähigkeit zur Intimität besteht im Wesentlichen darin, immer wieder den Wunsch nach symbiotischer Verschmelzung mit dem anderen abzuwehren und sich mit jenem Rest an belassenem Geheimnis des anderen abzufinden.
Es gibt auch die Angst vor der Nacktheit. Dem Nackten traut man alles zu. Wer sich der Nacktheit nicht mehr schämt, der könnte auch leicht unverschämt werden. Womöglich wäre das ein Anfang vom Ende jeglicher Ordnung. So könnte man den lustfeindlichen Überbau jeglicher Satzung von FKK-Verbänden sehen.
Ein Argument gegen Kleidung und für mehr Nacktheit ist, Nacktheit mache gleicher. Allerdings nicht nur Kleider, auch Körper machen Leute. Öffentliche Nacktheit könnte die soziale Randständigkeit körperlich benachteiligter Menschen steigern. Nicht nur Ausziehen, auch Anziehen bietet Freiheits- und Verwirklichungschancen.
Die Erotik des unverhüllten Körpers bleibt eine Macht, die größtes Glück und tiefstes Scheitern zugleich verheißen kann.