
30.3.2022
Die Erkenntnis über das eigene Leben wächst mit dem Älterwerden
Wie kam ich mit 14 Jahren dazu, „Gott in mir“ zu schreiben und zu malen?
Es muß zum Abschluß meines letzten Schuljahres gewesen sein, daß ich gemeinsam mit einem Schulkameraden aus dem Brief von Matthias Claudius (1740-1815) „An meinen Sohn Johannes, 1799“ den zweiten Teil, in dem folgende Sätze vorkommen, auswendig vortragen durfte: „Nicht die frömmelnden, aber die frommen Menschen achte, und gehe ihnen nach. Ein Mensch, der wahre Gottesfurcht im Herzen hat, ist wie die Sonne, die da scheinet und wärmt, wenn sie auch nicht redet.“
Ich habe vermutlich lange gebraucht, um den Artikel auswendig zu lernen, und habe währenddessen wahrscheinlich folgendes in mein Religionsheft gemalt und geschrieben:
Mein auswendig zu lernender Teil lautete:
Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint, und Du weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen sein könne.
Es ist leicht zu verachten, Sohn; und verstehen ist viel besser.
Lehre nicht andre, bis Du selbst gelehrt bist.
Nimm Dich der Wahrheit an, wenn Du kannst, und laß Dich gerne ihrentwegen hassen; doch wisse, daß Deine Sache nicht die Sache der Wahrheit ist, und hüte, daß sie nicht ineinanderfließen, sonst hast Du Deinen Lohn dahin.
Tue das Gute vor Dich hin, und bekümmre Dich nicht, was daraus werden wird.
Wolle nur einerlei, und das wolle von Herzen.
Sorge für Deinen Leib, doch nicht so als wenn er Deine Seele wäre.
Gehorche der Obrigkeit, und laß die andern über sie streiten.
Sei rechtschaffen gegen jedermann, doch vertraue Dich schwerlich.
Mische Dich nicht in fremde Dinge, aber die Deinigen tue mit Fleiß.
Schmeichle niemand, und laß Dir nicht schmeicheln.
Ehre einen jeden nach seinem Stande, und laß ihn sich schämen, wenn ers nicht verdient.
Werde niemand nichts schuldig; doch sei zuvorkommend, als ob sie alle Deine Gläubiger wären.
Wolle nicht immer großmütig sein, aber gerecht sei immer.
Mache niemand graue Haare, doch wenn Du recht tust, hast Du um die Haare nicht zu sorgen.
Mißtraue der Gestikulation, und gebärde Dich schlecht und recht.
Hilf und gib gerne, wenn Du hast, und dünke Dir darum nicht mehr; und wenn Du nicht hast, so habe den Trunk kalten Wassers zur Hand, und dünke Dir darum nicht weniger.
Tue keinem Mädchen Leides, und denke, daß Deine Mutter auch ein Mädchen gewesen ist.
Sage nicht alles, was Du weißt, aber wisse immer, was Du sagest.
Hänge Dich an keinen Großen.
Sitze nicht, wo die Spötter sitzen, denn sie sind die elendesten unter allen Kreaturen.
Nicht die frömmelnden, aber die frommen Menschen achte, und gehe ihnen nach.
Ein Mensch, der wahre Gottesfurcht im Herzen hat, ist wie die Sonne, die da scheinet und wärmt, wenn sie auch nicht redet.
Tue was des Lohnes wert ist, und begehre keinen.
Wenn Du Not hast, so klage sie Dir und keinem andern.
Habe immer etwas Gutes im Sinn.
Wenn ich gestorben bin, so drücke mir die Augen zu, und beweine mich nicht.
Stehe Deiner Mutter bei, und ehre sie solange sie lebt, und begrabe sie neben mir.
Und sinne täglich nach über Tod und Leben ob Du es finden möchtest, und habe einen freudigen Mut; und gehe nicht aus der Welt, ohne Deine Liebe und Ehrfurcht für den Stifter des Christentums durch irgend etwas öffentlich bezeuget zu haben.
Dein treuer Vater.
Vollständiger Text