10.7.2022

Die körperliche Begleiterscheinung der Mystik

Bei Heiligen spricht man von Levitation (lat. levitas = Leichtigkeit), einem Schweben über dem Boden. Es ist eine sich leiblich äußernde Einheitserfahrung mit Gott, nicht nur eine Erfahrung der Seele. Bei gewissen Verzückungen schwebt der Leib, wenn der Geist von Gott hingerissen wird. Der Leib verliert in der Ekstase seine ganze Schwere.

Genau das Gegenteil passiert, wenn ein Kind sich auf den Boden fallen läßt und sich schwer macht, so daß die Mutter es kaum aufheben kann.

Ich habe mich von Studenten an den Unterarmen packen lassen, und sie sollten versuchen, mich hochzuheben. Das ging bei meinem Normalgewicht ganz leicht. Wenn ich mich aber im Hara befand, war es ihnen kaum möglich.

Der Mensch hat also auch noch etwas anderes in sich, was die Waage jedoch in ihrer Gewichtsangabe nicht darstellen kann.

Volker Leppin (* 1966)

Ruhen in Gott
Eine Geschichte der christlichen Mystik
C.H. Beck Verlag, München 2021
ISBN 9783406773754

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Predigt in Billerbeck am 10.7.2022
15. Sonntag im Jahreskreis C

Erste Lesung: Dtn 30,10-14
(Zweite Lesung: Kol 1,15-20)
Evangelium: Lk 10.25-37

Wir haben im Evangelium gehört, daß ein Gesetzeslehrer von Jesus wissen wollte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen. Jesus erzählt ihm das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Viele Menschen haben sich schon Gedanken darüber gemacht, was Ewiges Leben bedeutet und wo der Himmel ist. Als Kind hat man mir beigebracht, der Himmel sei oben, die Hölle unten und das Fegefeuer habe natürlich in der Mitte seinen Platz. Diese Bilder stammen aus der Zeit, als man sich die Erde noch als flache Scheibe vorstellte. Inzwischen sind wir aber klüger geworden, und wissen, daß die Erde eine Kugel ist, ein winziges Gebilde in der großen Schöpfung des Universums.

Diese Schöpfung ist ein Teil des großen ALLEINEN, das wir Christen Gott nennen. Die Quanten- und Astrophysiker haben schon lange begriffen, daß das große ALLEINE weder Anfang noch Ende hat, eine Vorstellung, die wir kaum nachvollziehen können. Deswegen verwenden wir Bilder. Diese aber sind eher falsch als richtig.

Ich stelle mir vor, daß meine Seele bereits ewig in Gott lebt. Im damals letzten Schuljahr der Volksschule, in der 8. Klasse, habe ich in mein Religionsheft die Worte „Gott in mir" geschrieben und daneben ein Dreieck für Gott, ein Herz für mich und in dieses Herz noch einmal das Dreieck gemalt.

Der Apostel Paulus schreibt: „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17,28) Gott ist für mich kein Gegenüber. Ich lebe in ihm, und ER lebt in mir. Aber um in der Ferne die Heimat kennenzulernen, wurde ich auf dieser Erde geboren. Das Sterben ist für mich eine Heimkehr. Warum muß/darf ich so lange warten?

Seit geraumer Zeit habe ich nicht mehr die Vorstellung, im Sterben ein Tor zu durchschreiten, sondern die Schleier fallen zu sehen, die mich jetzt noch hindern, die vollkommene göttliche Wirklichkeit zu erleben. In der letzten Strophe des Hymnus „Adoro te devote“ bittet Thomas von Aquin Gott, die Schleier fallen zu lassen, die zu Beginn der Schöpfung noch nicht existierten.

Dort heißt es:
„Jesus, den verborgen jetzt mein Auge sieht, stille mein Verlangen, das mich heiß durchglüht: Laß die Schleier fallen einst in deinem Licht, daß ich selig schaue, Herr, dein Angesicht.“ (GL 497,7 – Übertragung: Petronia Steiner)

Für unsere Zeit auf Erden formuliert der Apostel Paulus: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.“ (1 Kor 13,12)

Um all das zu verstehen, müssen wir die Sprache Gottes lernen. Selbst Priester tun sich da schwer. Einer erzählte mir ein für ihn sehr beglückendes Ereignis. Kurz darauf stöhnte er: „Ach, wenn ich doch einmal hören würde, daß Gott zu mir spricht.“ Ich machte ihn aufmerksam, daß er mir doch gerade ein Beispiel dafür erzählt habe. Da staunte er und sagte: „Jetzt weiß ich, wie es klingt, wenn Gott mit mir spricht.“

Manchen Menschen erscheint eine Gottesbegegnung laut. Doch bei Elija am Berg Horeb wählte Gott den fast geräuschlosen Weg, den sanft säuselnden Wind. Der religiöse Mensch weiß um die Kraft der unhörbar-hörbaren Stille. Es geht um die „Stimme verschwebenden Schweigens“ (1 Kön 19,12).

Können wir noch still werden? Zu Hause und vor allem in der Kirche? Mir hat die Meditation, die ich im Zen-Buddhismus kennenlernen durfte, sehr geholfen, ganz im Hier und Jetzt zu sein und auf das verschwebende Schweigen Gottes zu lauschen. Viele Menschen gehen gerne in die Kirche, wenn alles ganz ruhig ist. Muß denn immer etwas los sein? Verweilen wir einen Augenblick in der Stille!

Zu Beginn des Gottesdienstes hörten wir in der Lesung: „Er wird dir Gutes tun, wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst.“ (Dtn 30, 10) Öffnen wir dafür immer wieder unser Ohr.