23.1.2019

Das Penrose-Dreieck erweckt den Anschein, es handele sich um eine geschlossene dreidimensionale Struktur aus drei rechten Winkeln, was in der euklidischen Geometrie jedoch unmöglich ist.

Die Wahrheit ist paradox (1)

Die Bibel ist voller Paradoxien. Dazu gehört unter anderem die Zusammen­setzung von Gegensätzen, wie zum Beispiel in dem Satz „Wer verliert gewinnt!“ (Mt 16,25). „Die Bibel ist jedoch ein Buch der Paradoxa – beinahe jede Behauptung wird durch eine andere, wirklich oder scheinbar gegenteilige aufgewogen, damit wir uns nicht träge an der Oberfläche der Dinge ansiedeln, in der sumpfigen Sandbank allzu billiger Gewissheiten.“ (Tomáš Halik * 1948)

Für Niklas Luhmann (1927-1998) liegt eine Paradoxie darin, daß man um anzufangen, bereits begonnen haben muß. Ihn interessiert es nicht, ob am Anfang die Henne oder das Ei war. „Die bekannte Henne sollte sich nicht auf die Suche nach dem Ei begeben, aus dem sie ent­­stan­den ist, sondern lieber eines legen und gackern.“

Während die Logik nur das Entweder-Oder kennt, trägt das Paradox das Sowohl-Als-auch in sich. Logik grenzt ein und gibt die Grenze genau an. Existentielle Fragen lassen sich aber nur paradox beantworten und sind damit für die Logik ungreifbar.

„[Jesus ist] ein großes Wesen, das alle Gegensätze aushält, die wir nicht aushalten können.“ (Richard Rohr in „Der göttliche Tanz“, adeo 2017: 196) In Christus wird alles eins, Natur und Übernatur, beides hat seinen Platz.

Da genuines christliches Denken sich aus der Mitte speist, hält es die Gegensätze in Balance. In Jesus Christus sind Gnade und Wahrheit eins, Gott und Mensch, Güte und Strenge, Himmel und Erde versöhnt. Wo populäre Trends oder auch Irrlehren sich immer aus der Überbetonung eines Aspektes unter Vernachlässigung des anderen speisen, zeichnet manche großen christlichen Denker die charakteristische Balance aus.

Die Fähigkeit, die Gültigkeit und Nützlichkeit zweier gegen­sätzlicher Wahrheiten gelassen auszuhalten, ist die Quelle von Toleranz. „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“ (Karl Popper 1902-1994).

Zum Leben gehört die Einsicht, daß die Wirklichkeit immer komplexer ist, als der Mensch sie in seinen Bemühungen um Er­kenntnis zum Ausdruck bringen kann. Die Wahrheit und die Wirk­­lichkeit sind jeweils größer als jene Gesichtspunkte, de­rer wir in unserer Erkenntnis habhaft werden können.

Jeder Mensch muß unbedingt mit Personen diskutieren, die ihm wider­sprechen. Wer das nicht tut, hat keine Ahnung, wovon er re­det. Wer nur seine Seite eines Falles kennt, weiß wenig davon. Wenn er selbst nicht fähig ist, die Argumente der Gegenseite zu entkräften, wenn er sie nicht einmal kennt, hat er keinen Grund, eine Seite zu bevorzugen.

Die Polarität bleibt nicht bei der Zwei stehen, sie ent­wickelt sich zur Drei, die Dyade zur Triade. Alles hat zwar zwei Seiten, aber erst, wenn man erkennt, daß es in Wirklich­keit drei sind, erfaßt man eine Sache in ihrem Wesen. Die Wirk­­lich­keit begegnet uns dreidimensional. Als Bild kann eine Zange die­nen. Sie besteht aus zwei entgegengesetzten Grei­fern, aber erst durch einen Dritten, der sie benutzt, leistet sie ihre Dienste.

Die Dreizahl ist ein uraltes Symbol für die Vielheit, die sich wie­der zur Einheit schließt. Wenn Zwei die Trennung und Schei­­­­­­­­­­dung von Eins bedeutet, so ist Drei das Symbol für die Wiedervereinigung, die wiedergewonnene Ganzheit. Sie ist die Synthese, altgrie­chisch (σύνθεσις sýnthesis = Zusammensetzung) Syn-Thesis, zwischen dem Einen und dem Anderen. Darum steht sie der Eins näher als der Zwei; denn Zwei besagt immer das Eine und das Andere, kennzeichnet den Gegensatz, die Antithese, altgrie­chisch (ἀντίθεσις antithésis = Gegenbehauptung) Anti-Thesis.

Auch ein Orakel hat mehr als zwei Seiten, letztlich hält es viele Möglichkeiten offen, aus denen sich der Orakelsucher eine auswählt. Dem lydischen König Krösus (* um 590 v. Chr. G.) prophezeite das Ora­kel von Delphi: „Wenn Du den Fluß Halys überschreitest, wirst Du ein großes Reich zerstören.“ Krösus bezog es auf das Perserreich, gemeint war aber sein eigenes.

Etwas Drittes entsteht, wenn Eins und Zwei sich vereinen, Ent­sprechendes geschieht während der Zeugung bei Tier und Mensch. Die Verbindung von Eins und Zwei gilt als Drei oder Drittes. Das Dreierprinzip ist auch der Schlüssel zu Gott, dem Dreifaltigen, der ein Gott ist in drei Personen. Der Heilige Geist ist das Bindende zwischen Gott Vater und Gott Sohn; er ist weder aktiv noch passiv, sondern wie ein Katalysator und Führer durch das Labyrinth des Unbekannten. In der Bibel heißt er der Tröster, er ist uns geschenkt durch den Vater, wobei der Sohn ihn bereits ankündigt; denn dieser ist als das Alpha und Omega (vgl. Offb 22,13) schon selbst ein über­greifendes Drittes, das die Pole verbindet. Die Drei ist das Dau­­ernde im Wechsel, der Mittelpunkt, um den sich die pola­ren Erscheinungen drehen.

Das Dritte läßt ahnen, was sein wird, wenn die Vereinigung der Pole endgültig ist. Ekstase ist das Arbeit und Muße Über­­stei­gende. In ihr gibt sich der Mensch im Höhenflug Gott anheim, indem er aus sich heraustritt und sich selbst über­steigt. Der Orgasmus als ekstatische Erfahrung über­steigt die Polspan­nung von Mann und Frau, und es entsteht das Ein­heits­gefühl: Ich bin Du und Du bist ich.

Die Zahl ist nicht nur Ordnungs- und Funktionszahl, sondern sie hat als Symbol ihre eigene Wesenheit und ihre besondere Kraft. Alles, was sich mit einer Zahl in Beziehung bringen läßt, trägt das Wesen dieser Zahl in sich. Die Eins steht für Ein­heit, in der Zwei wird sich das Eine seiner selbst bewußt, die Drei ist die dreigliedrige Einheit, das Umfassende, die Syn­these entge­gen­gesetzter Kräfte. Die Dreiheit kann die Polari­tät vor Spal­tung in den Dualismus bewahren.

In besonderer Weise wird dies bei unserem zweigeteilten Ge­hirn deutlich. Normalerweise zerdenken wir automatisch al­les, was unseren Kopf erreicht, weil wir meistens einseitig mit unserer linken Gehirnhälfte denken. In der rechten Gehirn­hälf­te ist mehr unsere Intuition zu Hause. Um zum Beispiel beide Gehirnhälften auf einen gemeinsamen Nenner zu brin­gen, käme es darauf an, sie zu synchronisieren; denn sie ent­sprechen im Prinzip zwei eigen­stän­digen Großhirnen, die men­tale Funktionen sehr unter­schied­lich erfüllen. Beide Ge­hirn­hälften sind durch das sogenannte „Corpus callosum – Gehirn­balken“ wie durch eine Brücke so ver­bun­den, daß sie sich wech­selseitig er­gänzen. Die linke Ge­hirn­hälf­te beeinflußt die rech­te Körper­seite, die rechte Ge­hirn­hälfte die linke. Die linke Gehirnhälfte arbei­tet analytisch, die rechte synthetisch.

Alles ist zweigeteilt, und es gilt, die polare Beziehung durch eine dritte Kraft zu einer höheren Einheit zu bringen. So steckt im Gegensatz der Pole eine kreative Kraft. Von alters her wird diese Erkenntnis durch das Bild des dritten Auges symbo­li­siert. Aus dessen Sicht läßt sich dann die Wider­sprüch­­­­lichkeit genießen; denn unsere Welt kann Genuß sein, wenn es einem Suchenden gelingt, die dritte Größe im „polaren Spiel“ zu erfas­sen. In der Gralssage ist Parzival ausersehen, das zu weit auseinandergerissene Gegensatzpaar von Gut und Bö­se mit Hilfe des Heiligen Geistes und des Grals wiederzu­ver­einigen.

Tugend gilt als Mitte und Drittes zwischen zwei Ab­irrungs­möglichkeiten, als Weg zwischen zwei Straßengräben. Im Kreis sind die Gegensätze versöhnt durch die Mitte, das Zentrum. Mit der „Goldenen Mitte“ ist also nicht Mittelmä­ßigkeit ge­meint, sondern die echte dritte Möglichkeit, die frei ist von zwiespältiger Spannung. Diese liegt auf einer höheren Ebene. Liebe zum Beispiel verläßt die Ebene von Sieg und Nie­derlage und geht auf der höheren Ebene anders mit dem anderen um. Diese Liebe ist nicht mit Harmonisierung zu verwechseln; denn es geht um die Liebe des Geistes, das Band des Friedens (vgl. Eph 4,3).

Das Geheimnis der wahren Mitte besteht darin, nicht die Gefangene ihrer Situation zu sein, sondern eine umformende Wirkung auszuüben auf die Gegensätze, zwischen denen sie steht, und auf diese Weise den Prozeß voranzutreiben.

Neben der Polarität gibt es die Solidarität. Polarität in der Freundschaft ist nicht alles, es gibt die Erweiterung der Freund­­­­schaft zur Dreiheit. Freundschaft mag mit der Polari­tät beginnen, was das Sprichwort „Gegensätze ziehen sich an“ aus­drückt. Sie muß jedoch wachsen zur Solidarität, ent­spre­chend der Redewendung „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Das Gleichsein finden zwei Menschen in Ausrichtung auf einen Dritten.

Letztlich kann die gemeinsame Richtung, das Dritte, nur Gott sein. In einer guten Beziehung ist er der Dritte im Bunde: „Ehen werden im Himmel geschlossen.“

Nicht nur die Evolution ist aus dem Prinzip der Drei, näm­lich These-Antithese-Synthe­se, zu ver­ste­hen, sondern auch im spi­ri­tuellen Sinne ist ohne Dreiheit keine Voll­en­dung mög­lich; denn sonst gäbe es einen Kreislauf ohne Fortschritt.

So sehr sich zwei entgegengesetzte Pole auch zu widerspre­chen scheinen, so sehr haben sie auch etwas Gemeinsames; nur weniger offensichtlich. Heraklit (* um 520 v. Chr. G.) formuliert: „Die verborgene Har­monie ist mächtiger als die offensichtliche. Die Menschen verstehen nicht, daß alles, was sich widerspricht, da­durch in Einklang kommt“, und zwar in Einklang auf einer höheren Ebe­ne. Diese Heraklitsche Meinung zeigt deutlich, daß eine eindi­mensionale logische Aus­sage nicht eine alleingültige über das Le­ben sein kann. Die Wahr­­heiten des Lebens äußern sich in Pa­radoxien, und es geht nicht ohne Kompromisse.

Wo erleben wir Paradoxien?