25.5.2022

Dimensionen des Reisens

Wesentlich ist weder die Menge der zurückgelegten Kilometer noch das prestigeträchtige ferne Ziel, sondern allein die Möglichkeit, eine individuelle Entscheidung zu treffen, wann und wohin man sich auf den Weg macht.

Corona hat die Reiselust der Menschen lange Zeit gebremst. Für meine Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, hing die größte Reise mit diesem Krieg zusammen. Die weiteste „Reise“ ging für zahlreiche Männer nach Rußland, während die Frauen und Kinder zum Ziel ihrer Evakuierung unterwegs waren. Nach dem Krieg gab es keine Möglichkeiten, weite Reisen zu machen, schon rein finanziell nicht. Es ist an der Zeit, Sinn und Inhalt des Reisens neu zu bestimmen; denn inzwischen ist der Weg in die Welt hinaus Gewohnheitsrecht. Die Jugend hält das für selbstverständlich. Obwohl sich uns die Gelegenheit bietet, jedes Ziel auszusuchen, das uns gefällt, bleiben die Chancen und Möglichkeiten dazu jedoch ungerecht auf dieser Welt verteilt.

Der römische Philosoph Seneca (+ 65 n. Chr. G.) schreibt im 28. Brief seiner Moralischen Briefe, eine Reise sei noch keine Garantie für eine Verwandlung: ,,Animum debes mutare, non caelum“ = „Du mußt deinen Sinn ändern, nicht den Himmel“; denn: „tecum fugis“ = „du nimmst dich immer selbst auf die Reise mit.“ Man kann vor vielem davonlaufen, aber nicht vor sich selbst.

Der italienische Dichter und Geschichtsschreiber Francesco Petrarca (1304-1374) bestieg im April 1336 den in der Provence liegenden 1912 m hohen Mont Ventoux. Damals galt das Gebirge noch als etwas Unheimliches. So betete Johannes von Salisbury (1111-1180) bei einer Alpenbesteigung: „Herr, gib mich meinen Mitmenschen wieder, daß ich sie hindern kann, sich an diesen Ort der Qual zu begeben.“

Petrarca hingegen machte sich freudig mit seinem Bruder auf den Weg zur Besteigung des Berges und staunte über den wunderbaren Ausblick. Auf dem Gipfel zog er aus seiner Tasche die „Confessiones“ des Augustinus (354-430) und entdeckte folgenden Satz: „Und es gehen die Menschen und bestaunen die Gipfel der Berge und vergessen sich dabei selbst.“ Auch Petrarca betrachtet eine Bergtour als sinnlos, wenn sie nicht eine Reise zu sich selbst ist.

Reisen als Verwandlung bedeutet, daß es um die Tiefe der Person, nicht um die Vielfalt der Ziele geht. Nelson Mandela (1918-2013) formulierte: „Nichts ist vergleichbar mit dem guten Gefühl, an einen vertrauten Ort zurückzukehren und zu merken, wie sehr man sich verändert hat.“