30.5.2020

Ellipse

Wenn jemand sagt: „Ich dreh mich im Kreis“, dann meint er damit nicht gerade etwas Positives, obwohl der Kreis das vollkommenste Zeichen ist. Doch da liegt auch schon der Fehler. Das Vollkommenste gebührt Gott. In ihm fallen alle Gegensätze zusammen, er hat nur eine Mitte.

Menschliches Leben aber ist spannungsgeladen, ausgespannt zwischen zwei Polen. Das zeigt die Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten besser als der Kreis mit nur einem Brennpunkt.

Der Kreis ist das Bild des Uranfangs. Die Zerstückelung des Kreises ist die Erschaffung der Welt. So beschreiben es viele Mythen und Sagen der Völker.

Aus der Einheit werden die Gegensätze geboren, und das ist Schöpfung. So erfährt der Mensch sich ausgespannt zwischen Himmel und Erde, hell und dunkel, oben und unten, innen und außen. Und so sehnt er sich nach Überwindung der Gegensätze, nach dem Ort, wo Himmel und Erde sich berühren.

Er kann lernen, daß er selbst der Ort ist, wo die Gegensätze zusammentreffen. Wenn sie sich jedoch vereinigen, dann ist Ewigkeit, dann ist Leben bei Gott.

In der Erdenzeit aber ist unser Weg die Bahn der Ellipse. Unser Leben ist wie Einatmen und Ausatmen, Wachen und Schlafen, Arbeiten und Erholen, Schweigen und Reden. Unsere Lebensbahn dreht sich um jeweils beide Pole. Wir sind in Gefahr, nur um einen zu kreisen und zum Beispiel nur für uns selbst oder nur für andere dazusein. Wir neigen mehr zum Entweder-oder als zum Sowohl-als- auch.

Es muß also gelingen, nicht aus der Bahn geworfen zu werden, wenn die Anziehung des einen Brennpunktes endet und der andere Brennpunkt unsere Bahn bestimmt. All das geschieht auf unserer Lebensbahn der Ellipse.

Die Bibel beschreibt die Sünde als das Seinwollen wie Gott. Es ist also Sünde, nur um einen Pol kreisen zu wollen; denn das kann nur Gott, in dem alle Pole zu einer Mitte werden.

Unser Leben muß immer wieder aus dem Bemühen bestehen, beide Pole zu sehen und miteinander in Beziehung zu bringen. Es ist eine lohnende Aufgabe, sich möglichst viele Spannungsbögen des eigenen Lebens bewußt zu machen.

Sicherlich müssen wir uns mit vielen Stand- und Brennpunkten versöhnen, die wir bisher verteufelt haben. Wir erleben den verteufelten Standpunkt in anderen und wundern uns, daß wir den betreffenden Menschen nicht mögen.

Wir leben und tragen zugleich den Tod in uns. Jeder Mann hat auch weibliche Anteile in sich wie jede Frau auch männliche, und beide sind je unverwechselbare selbständige Einzelwesen, die aber nur als Glieder einer Gemeinschaft leben können. Wir sind Kinder Gottes und möchten gut sein, fühlen aber auch das Böse in uns am Werk; denn wir sind Gerechte und Sünder zugleich. „In jedem von uns steckt ein klei­ner Hitler und ein kleiner Gandhi“, formulierte die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004) oder anders ausgedrückt: „ein Dr. Jekyll und ein Mr. Hyde.“

Wer das Böse nicht kennt, weiß nicht, was gut ist. Die Bibel drückt diese Wahrheit wie folgt aus: „Wer verliert, gewinnt!“

Rainer Maria Rilke (1875-1926) sagt: „Dieses heißt Schicksal: Gegenübersein und nichts als das und immer gegenüber!“

Ich persönlich lebe in der Hoffnung, daß in Gott auch meine Gegensätze zusammenfallen und ich zu einer Mitte finde. Könnte das auch Ihr Wunsch sein?