27.8.2022

„Es braucht sehr lange, um jung zu werden“

Diesen Satz äußerte einmal lakonisch der Künstler Pablo Picasso (1881-1972). Jesus sagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3)

Kind-Werden ist etwas anderes, als kindisch zu werden; ersteres ist mit großer Mühe verbunden. Alle tragen ein verletztes Kind in sich. Die Psychologen sprechen vom Inneren Kind, das bei vielen Menschen zu kurz kommt. Wer das Innere Kind verdrängt, verliert nach und nach seine Lebendigkeit. Ein Kind kann innerlich verletzt sein. Indem wir Verantwortung dafür übernehmen, ist es möglich, durch das verletzte Kind hindurch in uns das göttliche Kind zu entdecken. Voraussetzung für die Erlösung ist das Kind-Werden.

Konrad Adenauer, 1883 (Quelle: StBKAH)

 

 

 

 

 

Von großen Persönlichkeiten findet man nur selten Fotos aus der Kindheit.

 

Die Geburt der Athene erfolgte aus dem Kopf des Zeus. Zeus nähte sich seinen eigenen Sohn Dionysos in seinen Oberschenkel ein, um ihn auszutragen.

Warum schreibt Johannes im Evangelium: „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1) und nicht „das Kind“? Markus schreibt überhaupt nichts von der Vorgeschichte des Erlösers. Matthäus holt weiter aus (vgl. Mt 1,18f) und Lukas geht ins Detail (vgl. Lk 1,35f).

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Hinaus ans Licht

Emil Nolde (1867-1956) malte 1912 die Heilige Familie. Das Bild trägt den Titel „Heilige Nacht“ und gehört zu seinem Hauptwerk, dem mehrteiligen Altaraufsatz „Das Leben Christi“. Ungewohnt ist die Blickrichtung. Das Licht leuchtet nicht im Stall das Kind an, sondern Maria hält ihren Sohn, „das Licht der Welt“, aus der düsteren Enge der Notunterkunft hinaus in die sternenklare Himmelsnacht.

 

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Jesaja weissagte die Blume Jesu

Es ist ein Ros entsprungen

Es ist ein Ros' entsprungen
aus einer Wurzel zart,
wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art
und hat ein Blümlein 'bracht
mitten im kalten Winter,
wohl zu der halben Nacht.

Das Röslein, das ich meine,
davon Jesaja sagt,
hat uns gebracht alleine
Marie, die reine Magd;
aus Gottes ew’gem Rat
hat sie ein Kind geboren
wohl zu der halben Nacht.

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Der alte Simeon begegnet dem Jesuskind

Acht Tage nach Jesu Geburt gingen Maria und Josef mit dem neugeborenen Kind nach Jerusalem in den Tempel, um Gott zu danken. Dort wartete der fromme und gottesfürchtige Simeon auf die Erfüllung des ihm vom Heiligen Geist prophezeiten Versprechens, „er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe“ (LK 2,26).

Auch für uns sind die Nähe und die Menschenfreundlichkeit Gottes erfahrbar. Das kann im Gottesdienst geschehen, wenn Jesus uns ganz nahe ist oder wenn wir selbst getröstet werden.

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Im Dienen begegnet Christophorus dem Jesuskind

Von Christophorus erzählt die Legenda aurea:
Da er einst in seiner Hütte ruhete, hörte er, wie eines Kindes Stimme rief: „Christophore, komm heraus und setz mich über.“ Er stund auf und lief hinaus, konnte aber niemanden finden; also ging er wieder in seine Hütte. Da hörte er die Stimme abermals. Er ging wieder hinaus und fand niemanden. Darnach hörte er die Stimme zum dritten Male wie zuvor; und da er hinausging, fand er ein Kind am Ufer, das bat ihn gar sehr, daß er es hinübertrage. Christophorus nahm das Kind auf seine Schulter, ergriff seine Stange und ging in das Wasser. Aber siehe, das Wasser wuchs höher und höher, und das Kind ward so schwer wie Blei. Je weiter er schritt, je höher stieg das Wasser, je schwerer ward ihm das Kind auf seinen Schultern; also daß er in große Angst kam, und fürchtete, er müßte ertrinken. Und da er mit großer Mühe durch den Fluß war geschritten, setzte er das Kind nieder und sprach: „Du hast mich in große Fährlichkeit gebracht, Kind, und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: hätte ich alle diese Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen.“
Das Kind antwortete: „Des sollst du dich nicht verwundern, Christophore; du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat. Denn wisse, ich bin Christus, dein König, dem du mit dieser Arbeit dienst.“
(Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Heidelberg, Verlag Lambert Schneider, 9. Auflage 1979, S. 500)

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Kind bleiben

Hermann Hesse (1877-1962) vermittelt uns durch sein Gedicht „Erinnerung“, warum wir Jesus, der unter vielerlei Gestalten unseren Lebensweg kreuzt, nicht erkennen:

ERINNERUNG

Wer an die Zukunft denkt,
Hat Sinn und Ziel fürs Leben,
Ihm ist das Tun und Streben,
Doch keine Ruh geschenkt.

Das Höchste wäre: Leben
In ewiger Gegenwart.
Doch diese Gnade ward
Nur Kind und Gott gegeben.

Vergangenheit, du bist
Uns Dichtern Trost und Nahrung.
Beschwörung und Bewahrung
Das Amt der Dichter ist.

Verwelktes blüht aufs neue,
Uraltes lächelt jung;
Fromme Erinnerung
Hält ihm in Ehrfurcht Treue.

In Vor- und Kinderzeit
Uns innig zu versenken,
Der Mütter zu gedenken,
Dazu sind wir geweiht.

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Bereits Kinder fragen nach Gott. Insofern beginnt die Gottesvorstellung nicht mit Moral, sondern mit Staunen. Die Gebete der Kinder sind keine Bitten, sondern fast ausschließlich Lob- und Dankgebete. Das Kind empfindet Bitten als nicht notwendig, da es sich selbst geborgen fühlt. Die Gottesbilder der Kinder kennen keine Grenzen der Phantasie.

Wer sich als Kind geborgen fühlte, wird auch als alter Mensch den Wunsch Jesu verstehen: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3)

Noch ist es nicht zu spät; denn das Kind in uns wartet nur darauf, leben und sich entfalten zu dürfen.

Warum ist Gott Kind geworden? Läßt sich der Erlöser nur als Kind finden, wie es in der Bibel von den Hirten und Weisen geschrieben steht? Johannes spricht vom Wort, das Fleisch geworden ist (vgl. Joh 1,14). Das Kind ist noch stumm, es ist selbst das Wort, soll aber all unsere Lebenslagen durchlaufen. Als Kind konnte Gott leichter unser Herz und unsere Liebe gewinnen. Gott beginnt sein Menschsein mit dem Kindsein, und wir sollen unser Menschsein mit dem Kindsein beenden.

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Wie die Bibel berichtet, wurde Jesus in einem Stall geboren. Für uns ist das ein Hinweis, daß Gott auch in uns nur geboren werden kann, wenn wir den Mut haben, den Stall in uns anzuschauen, das heißt alles Unaufgeräumte, das Chaos, in uns, das, was nicht gut riecht, was uns peinlich ist, was wir am liebsten vor uns selbst und vor den anderen verbergen möchten.

Wer Weihnachten mit kleinen Kindern feiert, ist gut versorgt. Den anderen müßte es im wunderbaren Dunkel dieser Tage gelingen, einen Weg in die Kindheit zu finden. Vielleicht ist das Weihnachtsfest im Kindesalter der Höhepunkt des Lebens. Jeder kann seine kindlichen Gedanken in sich selbst wiederfinden und seinen Glauben, den er als Kind hatte, erneuern.

Möchten Sie noch einmal Kind sein und sagen: „Einst spielt' ich mit Zepter, mit Krone und Stern“, wie der Zar in der Oper Zar und Zimmermann: von Albert Lortzing (1801-1851) singt?

Sonst spielt’ ich mit Zepter, mit Krone und Stern;
Das Schwert schon als Kind, ach, ich schwang es so gern!
Gespielen und Diener bedrohte mein Blick;
Froh kehrt’ ich zum Schoße des Vaters zurück.
Und liebkosend sprach er: Lieb’ Knabe, bist mein!
O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!

Nun schmückt mich die Krone, nun trag’ ich den Stern
Das Volk, meine Russen, beglückt’ ich so gern.
Ich führ’ sie zur Größe, ich führ’ sie zum Licht,
Mein väterlich Streben erkennen sie nicht.
Umhüllet von Purpur nun steh’ ich allein -
O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!

Und endet dies Streben und endet die Pein,
So setzt man dem Kaiser ein Denkmal von Stein.
Ein Denkmal im Herzen erwirbt er sich kaum,
Denn irdische Größe erlischt wie ein Traum.
Doch rufst du, Allgüt’ger: ln Frieden geh ein!
So werd’ ich beseligt dein Kind wieder sein.

Text: Philipp Salomon Reger (1804-1857)

Siehe auch Themenfeld Kind.