21.2.2022

Ewigkeit im Augenblick

Wie sollen wir im Himmel die Himmlische Musik wahrnehmen, wenn es dort nur das JETZT gibt, wir es aber gewohnt sind, nacheinander Ton für Ton zu hören?

Die wunderbaren Töne der Musik sind irgendwann im Kopf eines Komponisten entstanden. Sie wurden zu schwarzen Flecken auf hellem Papier. Viele Menschen haben diese schwarzen Flecken zum Klingen gebracht. Ist die Musik verklungen, wird der Klang wieder zur Stille. Jeder Klang hat eine Beziehung zur Stille; jeder Ton hat etwas vom Sterben in sich.

Musik erleben wir nur, indem sie vergeht. Wir sind nur dann fähig, sie zu genießen, wenn wir loslassen. Je aufmerksamer wir zuhören, desto bewußter empfinden wir das Zurückbleiben der Melodie. Obwohl die Musik verklungen ist, bleibt sie in uns.

All das gelingt aber nur beim Lauschen in innerer Sammlung, meditativem Schweigen, teilnehmender Aufmerksamkeit, stiller Kontemplation und mit einem Verständnis für leise Töne.

Wenn wir auf Erden schon Ewigkeit im Augenblick erfahren können, in welcher Fülle mag uns dann die Himmlische Musik erst im Himmel zuteil werden?

Ziel der Aufmerksamkeit ist, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Dazu hilft die Meditation, ohne auf die Uhr zu schauen. Es gilt, ganz im JETZT zu sein, und das ganz und gar, ohne daß es etwas bringen muß. Sonst würde ich aus dem Sein herausfallen; denn ich möchte ja etwas erfahren.

 

Ein buddhistischer Meister wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so glücklich sein könne. Er sagte: „Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich, wenn ich liebe, dann liebe ich …“ Dann fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: „Das tun wir auch, aber was machst Du darüber hinaus?“ Er sagte wiederum: „Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich, wenn ich liebe, dann liebe ich …“ Wieder sagten die Leute: „Aber das tun wir doch auch!“ Er aber sagte zu ihnen: „Nein – wenn Ihr sitzt, dann steht Ihr schon, wenn Ihr steht, dann lauft Ihr schon, wenn Ihr lauft, dann seid Ihr schon am Ziel.“

Codex Calixtinus

Einst soll Virila, der Abt des Klosters Leyre, im Eichenwald in der Umgebung des Klosters vom Gesang einer Nachtigall so verzaubert worden sein, daß er Zeit und Raum vergaß. Eine Stimme sprach zu ihm: „Virila, du wähntest nur eine kurze Weile dem Singen des Vogels zu lauschen, aber in Wahrheit sind darüber drei Jahrhunderte vergangen. Um wieviel weniger ist es dem Menschen gegeben, auch nur einen winzigen Bruchteil der immerwährenden Freuden der Ewigkeit Gottes verstreichen zu sehen ...“
(Nach dem Codex Calixtinus)

Siehe auch Der Gesang der Nachtigall.

 

Bei einem Fluß ist das Wasser,
das man berührt, das letzte von dem,
was vorübergeströmt ist,
und das erste von dem, was kommt.
So ist es auch mit der Gegenwart.
(Leonardo da Vinci 1452-1519)