19.10.2018

Fühlen und Tasten

Du umschließt mich von allen Seiten. (Psalm 139,5)

Unser Körper ist vollkommen umhüllt von unserer Haut. Von unseren Organen entwickelt sie sich am frühesten. Sie dient der Durchlässigkeit und ist so ein Mittel des Austausches. Indem sie aber auch Begrenzung und Schutz ist, fungiert sie gleichsam als Filter zwischen dem Innen und dem Außen.

Noch bevor es Augen und Ohren hat, reagiert das Kind im Mutterleib schon auf eine Reizung der Oberlippe. Aus der Haut entwickeln sich alle anderen Sinnesorgane. Augen und Ohren sind die empfindsamsten Punkte dieser Haut; Netzhaut und Trommelfell haben reinen Durchlässigkeitscharakter. Wenn wir schlafen, bleibt von unseren Sinnesorganen die Haut am wachsten.

Vielleicht ist uns die Haut etwas zu Selbstverständliches, so daß sie uns meist nicht in demselben Maße bewußt wird wie die anderen Sinne. Sie ist aber fähig, das Ausfallen anderer Sinnestätigkeiten in gewissem Maße zu ersetzen. Das erfahren vor allem blinde und taubstumme Menschen. Die Haut ist das einzige Sinnesorgan mit einer doppelten Funktion. Wir sprechen von „Tasten“ und „Fühlen“ und unterscheiden dabei zwischen einem mehr aktiven und einem mehr passiven Tun.

Zahlreiche Redewendungen zeigen, welche Bedeutung für uns Berührungserlebnisse haben: „Es geht mir unter die Haut“, „er hat ein dickes Fell“, „ich bin davon angerührt“, „sie will mit Samthandschuhen angefaßt werden“, „etwas richtig anfassen“.

Die Haut reagiert aber nicht nur auf das Außen. Auch was geistig und seelisch im Menschen geschieht, beeinflußt die Haut auf unterschiedliche Weise. Sie wird rot oder blaß; der Mensch bekommt eine Gänsehaut, auch dann, wenn er nicht friert; die Haut verspannt sich und wird panzerartig starr oder auch weich wie Samt. Viele Hautkrankheiten haben einen seelischen Ursprung.

Der Mensch kann nicht ohne Hautkontakt leben. Das gilt vor allem für das Kind und den alten Menschen. Schon Säuglinge leben nicht von der Muttermilch allein, sondern ebenso von der Berührung und von den Zärtlichkeiten, die das Stillen begleiten. Die Berührung durch eine menschliche Hand ist mehr als eine mechanische Berührung, vor allem wenn sie mit der richtigen Einstellung geschieht. Für unser ganzes Leben bleibt wichtig, wie man uns behandelt.

Durch Handauflegungen können Heilungen zustande kommen. Jesus hat viele Tabus der Juden gebrochen. So sah er nicht ein, daß er durch die Berührung von Zöllnern, Dirnen und Aussätzigen unrein werden sollte. Und indem er sie berührte, ging von ihm eine vergebende und heilende Kraft auf sie über.

Nicht nur Berührung oder Druck, sondern auch Wärme oder Kälte beeinflussen unser Fühlen und Empfinden. Das Spüren der warmen Haut der Mutter ist für das Neugeborene der erste Akt der Eingliederung in die menschliche Gesellschaft. Später gibt es dem Kind immer wieder Sicherheit, wenn es die Mutter anfassen kann. Das Berühren überzeugt mehr vom Vorhandensein des anderen als das Sehen und Hören. Wichtig für Berührungen sind Lippen und Finger. Welche Bedeutung haben gerade in der Liebe der Kuß und das Streicheln. Liebende können durch Gesten der Zärtlichkeit mehr ausdrücken als durch Worte. Auch im religiösen Leben hat das Berühren eine große Bedeutung. Heilige Gegenstände werden berührt und geküßt. Pilger besiegeln ihre Wallfahrt durch die Berührung des für das Ziel wichtigen Gegenstandes: In St. Peter in Rom ist es der Fuß der Petrusstatue, in Santiago de Compostela die Muschel auf dem Gewand der Jakobusstatue, in Montserrat die Weltkugel in den Händen des Christuskindes auf dem Schoß der schwarzen Madonna, in Lourdes die Wand der Grotte, in der die heilige Jungfrau erschienen ist, und an zahlreichen weiteren Marienwallfahrtsorten das jeweilige Gnadenbild.

Huub Oostethuis, Übertragung Nicolas Schalz
Nahe wollt der Herr uns sein,
nicht in Fernen thronen.
Unter Menschen wie ein Mensch
hat er wollen wohnen.
Überall ist er uns nah,
menschlich uns zugegen.
Unerkannt kommt er zu uns
auf verborgnen Wegen.