
Gedanken zu Lesefrüchten (15.3.2021)
Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.
Aufgabe der Eltern
Manche Eltern wollen die Freunde ihrer Kinder sein und lassen sich unter anderem mit dem Vornamen ansprechen. Sie sollten aber deren Erzieher sein. (s. Gedanken zu Lesefrüchten 20.7.2020)
In der F.A.Z. Nr. 196 vom 24. August 2020 stellte sich der Schriftsteller Garry Disher (* 1949) einigen Fragen seiner Interviewpartner. Besonders beeindruckt hat mich seine Antwort auf die Frage:
„Wie kriegen Sie es hin, seit Jahren besser und besser zu werden?“
„Ich nehme diese Entwicklung selbst gar nicht wahr. Vielleicht liegt es daran, dass ich mit den Jahren mehr Zutrauen zu meinen Fähigkeiten entwickelt habe. Ich versuche fortwährend, meine Grenzen zu testen und meine Möglichkeiten zu erweitern. Zugleich fühle ich mich, als würde ich einen Drahtseilakt vollführen und jeden Moment stolpern.“
In diesen Äußerungen finde ich etwas von mir persönlich wieder:
Mit 15 Jahren habe ich einen Lebensweg betreten, den ich für den meinen hielt und bin Priester geworden. Um mich von meinem Zuhause zu lösen, mußte ich mich gegen meinen Stiefvater durchsetzen; mein eigener Vater war, als ich 6 Jahre alt war, 1942 in Rußland gefallen.
Auf meinem Weg begegnete ich Menschen, die in mir etwas erkannten und mir Dinge zutrauten, die mir selbst nie in den Sinn gekommen wären. Das hat mein Selbst sehr gestärkt und gefördert. Somit habe ich wie Garry Disher „mit den Jahren mehr Zutrauen zu meinen Fähigkeiten entwickelt“. Ursprünglich wollte ich Pfarrer werden und hätte zum Beispiel nie gedacht, daß mein Leben als Priester in der Aufgabe eines Spirituals bestehen könnte. Heute weiß ich, daß es richtig war, mir diese Aufgabe zuzutrauen.
Viele Menschen setzen ihre Grenzen zu eng und verpassen das ihnen zugedachte Leben. „Sobald Du Dich auf den Weg machst, öffnet der Horizont seine Grenzen.“ (Kyrilla Spiecker 1916-2008)
Schmerz zeigt mir, wo ich eine Grenze überschritten habe, wo ich zu weit gegangen bin. Er signalisiert meinem Körper eine Gefahr als subjektive Antwort auf eine negative Reizung. Wir müssen den von unserer menschlichen Endlichkeit gesetzten Grenzen Rechnung tragen.
Wir erfahren uns begrenzt, umschlossen von den beiden endgültigen Grenzen „Anfang“ und „Ende“ und stolpern über unser Begrenztsein. Im Tor stoßen das Begrenzte und das Grenzenlose aneinander. Grenzen sind Prozesse der Durchlässigkeit und der Vermittlung, daher brauchen Mauern Tore.
Wir sind auf eine Grenze als Abschluß fixiert. Die Grenze am Lebensende macht deutlich, was sie am Lebensanfang schon war: Indem sie trennt und unterscheidet, öffnet sie den Weg ins Leben, letztlich ins Ewige Leben.
Letzlich ist für mich das Leben ein Drahtseilakt.
Ich bin ein Brückenbauer, ein Pontifex oppositorum. Ich kann nicht einseitig sein, sondern sehe meine Aufgabe darin zu vermitteln.