
Gedanken zu Lesefrüchten (15.6.2020)
Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.
Das Ewig-Weibliche und das Patriarchat
Mannsein beziehungsweise Frausein umfaßt mehr als nur männliche beziehungsweise weibliche Geschlechtsmerkmale. Es geht nicht um den Gegensatz „Mann oder Frau“, sondern um die Gegenpole „Mann und Frau“. Anstatt zu äußern: „Bestimmte Eigenschaften sind männlich beziehungsweise weiblich“, ist es sinnvoller zu sagen: „Es gibt männliche und weibliche Charakterzüge, deren Mischungsverhältnis das jeweilige Wesen des individuellen Menschen bestimmt.“
Den weiblichen Anteil im Mann bezeichnet man als „anima“, den männlichen AnteiI in der Frau als „animus“. Es kommt darauf an, daß der Mann seine „anima“ integriert und die Frau ihren „animus“.
Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht das Matriarchat. Analog zum biogenetischen Grundgesetz (Keimesentwicklung = Stammesentwicklung) gilt auch hier: Die Säuglingszeit ist dem Matriarchat zuzuordnen.
Im religiösen Bereich stehen am Anfang die Muttergottheiten. Die männlichen Gottheiten erhalten ihre Würde als Sohn-Gottheiten von der Muttergottheit.
Auf das Matriarchat folgt das ebenso einseitig ausgeprägte Patriarchat. Das Kind erkennt, daß es ein von der Mutter getrenntes Selbst ist. Die Götter der großen Religionen haben vorwiegend männlichen Charakter.
Auch der Eingottglaube im Judentum, Christentum und Islam, der Gott als Mann sieht, ist im Patriarchat entstanden. Auf dem Berg Athos sind selbst für einen Besuch der Klöster keine Frauen zugelassen. Die Bibel verweist auch auf die Vorstellungen vom zärtlichen und barmherzigen Gott (Jes 66,12f; 49,15; 46,3-5 und Hos 11,1-4). Auch die weiblichen Zuordnungen von „Barmherzigkeit“ (hebr. רחמים rahamim), abgeleitetet von (hebr. רֶחֶם riihäm = Mutterleib), sowie Schechina (hebr. שְׁכִינָה šəchīnāh = Gottes Heimstätte auf Erden) und Ruach (hebr. רוּחַ rûaḥ = Geist) lassen Gott weiblich erscheinen.
Das Ziel unseres Zeitalters sollte das Integrat von Weiblich und Männlich sein, wie es bereits der berühmte Kulturphilosoph Jean Gebser (1905-1973) gesehen hat.
Erstrebenswert ist die Vision vom androgynen Menschen. Im nicht in die Heilige Schrift aufgenommenen Thomasevangelium heißt es:
„22 Jesus sah kleine (Kinder) saugen. Er sprach zu seinen Jüngern: Diese Kleinen, die saugen, gleichen denen, die eingehen ins Reich. Sie sprachen zu ihm: Werden wir, indem wir klein sind, eingehen in das Reich? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr die zwei (zu) eins macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere, und wo ihr macht das Männliche und das Weibliche zu einem einzigen, damit nicht das Männliche männlich und das Weibliche weiblich ist, wenn ihr macht Augen statt eines Auges und eine Hand statt einer Hand und einen Fuß statt eines Fußes und ein Bild statt eines Bildes, dann werdet ihr eingehen in [das Reich].“
Siehe auch Themenfeld „Gebser“.