Gedanken zu Lesefrüchten (18.1.2021)

Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.

Distanz und Nähe

Wie haben sich zwischenmenschliche Nähe und Distanz über die Jahrhunderte verändert? Wo hört das Private auf, und wo fängt die Öffentlichkeit an?

Früher gab es Telefonhäuschen, um geschützt sprechen zu können; heute wird in aller Öffentlichkeit laut per Handy telefoniert.

Früher war es despektierlich, bei einer Begegnung die Hand zu verweigern; heute gewöhnt man sich an andere Begrüßungsformen.

 

 

 

 

 

Wie alle Primaten berührten wir vor „Corona“ einander mit Umarmungen, Händeschütteln, Schulterklopfen, einer Berührung, die einen Moment verweilt, um Unterstützung zu signalisieren.

Die akzeptierte Nähe zu anderen Menschen war keineswegs in allen Zeiten und Kulturen gleich. Wer einem Menschen nahe sein durfte und wer auf Distanz bleiben mußte, an welchen Orten und in welchen Situationen wir Nähe zeigen durften und wo nicht, all das wurde immer wieder neu ausgehandelt.

In der Beziehung zu Gott empfinden Menschen Nähe, erst als Ungläubige gehen sie auf Distanz. Früher haben die Menschen oft auf sehr engem Raum zusammengelebt. So habe ich es nach dem Krieg erfahren, als wir mit vier Personen Tag und Nacht in einem Kellerraum unseres zerbombten Hauses gelebt haben. Erst spät kam der Luxus, ein eigenes Zimmer zu haben. Für kinderreiche Familien war dies undenkbar.

Tatsächlich spielte sich das tägliche Leben der meisten Menschen bis zur industriellen Revolution im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert fast nur in der Kern- und Großfamilie sowie in der Dorfgemeinschaft ab. Um die Kranken und Schwachen kümmerte sich die Familie.

Mit der Digitalisierung sind wir in der Öffentlichkeit wieder privater geworden. Wir sitzen mit Kopfhörern im Bus oder im Park und sind nach innen gerichtet, während gleichzeitig Inhalte aus aller Welt in unser Bewußtsein dringen. Was vorher hinter verschlossenen Türen geschah, hat jetzt ein Publikum.