Gedanken zu Lesefrüchten (20.12.2021)

Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.

„Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“ (Erich Kästner 1899-1974)

Erich Kästner hat zwar auch einige Romane für Erwachsene geschrieben, aber die meisten für Kinder: „Emil und die Detektive“ stellen einen Dieb und damit auch die Ordnung wieder her. „Das doppelte Lottchen“, ein Zwillingspärchen, bringt die geschiedenen Eltern wieder zusammen. „Das fliegende Klassenzimmer“ zeigt den Konflikt zwischen zwei Schulklassen auf, der letztendlich in Versöhnung endet.

 

Obiges Zitat stammt aus Erich Kästners „Ansprache zu Schulbeginn“ aus dem 1968 von Wilhelm Rausch herausgegebenen Buch „…was nicht in euren Lesebüchern steht“. Dort heißt es unter anderem:

Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr.
Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die "überflüssig" gewordenen Stufen hinter euch ab, und nun könnt ihr nicht mehr zurück! Aber müsste man nicht in seinem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstborten und ohne das Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun - die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus, und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch!

Link zum Gesamttext der Rede

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„Zur Fotografie eines Konfirmanden“ verfaßte Erich Kästner folgendes Gedicht:

Da steht er nun, als Mann verkleidet,
und kommt sich nicht geheuer vor.
Fast sieht er aus, als ob er leidet.
Er ahnt vielleicht, was er verlor.

Er trägt die erste lange Hose.
Er spürt das erste steife Hemd.
Er macht die erste falsche Pose.
Zum ersten Mal ist er sich fremd.

Er hört sein Herz mit Hämmern pochen.
Er steht und fühlt, daß gar nichts sitzt.
Die Zukunft liegt ihm in den Knochen.
Er sieht so aus, als hätt's geblitzt.

Womöglich kann man noch genauer
erklären, was den Jungen quält:
Die Kindheit starb; nun trägt er Trauer
und hat den Anzug schwarz gewählt.

Er steht dazwischen und daneben.
Er ist nicht groß: Er ist nicht klein.
Was nun beginnt, nennt man das Leben.
Und morgen früh tritt er hinein.

Link zur Audioversion

Jesus drückt die Wahrheit so aus: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ (Mt 18,3)