Gedanken zu Lesefrüchten (22.3.2021)

Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.

Mein Älterwerden
Mit 66 Jahren fängt das Leben zwar nicht an, aber das nun einsetzende Oszillieren zwischen Empörung und Dankbarkeit macht Freude.

Unter dieser Überschrift beschrieb Matthias Matussek in der Wochenzeitung Die Tagespost vom 9. Juli 2020 sein Älterwerden.

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Die Vergänglichkeit erlebt man gefühlt je nach Alter unter­schiedlich. Der mit zunehmendem Alter näherrückende Tod ist dabei ein entscheidender Faktor. Es gibt aber auch die Zeit des stehenden Augenblicks, die uns heraushebt aus dem Strom verrinnender Zeit, ganz gleich in welchem Alter.

Das Leben ist nur dann zu kurz, wenn der Mensch die ihm zur Verfügung stehende Zeit nicht entsprechend nutzt. Möglicherweise liegt das Glück gerade darin, uns selbst nach dem Besten, was uns wirkliches Leben ermöglicht, auf die Suche zu machen. Offenheit für neue Erfahrungen scheint aber im Alter nach­zulassen; man bleibt häufig lieber beim Ge­wohn­ten. Glück als Zustand gibt es nicht, es gibt nur glückliche Mo­mente, die uns oft erst nachher als solche be­wußt werden.

Ich persönlich möchte mit meinen nun 85 Jahren seltener Herr meiner Aussagen und Handlungen sein, sondern statt dessen besonders auf Eingebungen und „Zu­­fälle“ reagieren. Verwunderung erregt es vor allem in Ge­sprächen, wenn ich dadurch ins Schwarze ge­troffen habe. So lerne ich, nicht immer dem nachzugeben, was ich will, sondern mich dem hinzugeben, was mich will. Meine religiöse Erfahrung bringt mich in Beziehung mit einer Macht, die mir die Sorge nimmt, mein Dasein und mein Handeln selbst begründen zu müs­sen.

Im Alter sollte man mit seinem Lebensweg ausgesöhnt sein, damit, daß man einen bestimmten Weg und keinen anderen ge­gangen ist, aber auch damit, daß man manche Wege gar nicht ge­se­hen hat.

Aus meinem „Weisheitsbuch“ „Was mich ärgert, hat mit mir zu tun“ S. 249-252

Alt werden, aber nicht alt sein

Altern ist ein Ausdruck des Lebens in Veränderung und kein Verhängnis. Die Lust, alt zu werden, steht in einem deutlichen Zusammenhang mit dem Gefühl, daß man schon jetzt ein glück­liches Leben führt. Der Hunger nach langem Leben ist nichts anderes als Hunger nach Gegenwart. Das Dümmste ist, ewige Jugend anzustreben, anstatt eine Kultur des Alterns zu pfle­gen. Manche wollen gerne jung sein, weil sie glauben, in dieser Zeit sei der Tod am fernsten.

„Das Alter aber hat die Heiterkeit dessen, der eine lange ge­tragene Fessel los ist und sich nun frei bewegt.“ (Arthur Scho­penhauer)

Es ist eine Gnade, bewußt alt zu werden. De­menz und Er­kran­kung an Alz­hei­mer aber können durch alle folgenden Über­le­gungen einen Strich machen.

Altwerden ist wie auf einen Berg, einen Ort von Gottesnähe und Gotteserfahrung, steigen. Berge zeigen die Grenze zwi­schen dem Diesseits und dem unerreichbaren Jenseits. Je höher man kommt, je mehr Kräfte verbraucht sind, desto wei­ter sieht man. Altern sollten wir nicht als Abbau von Fähig­keiten be­greifen. Nicht durch körperliche Kraft vollbringt man große Din­ge, sondern durch Fähigkeiten, die dank Erfahrung, verbunden mit Über­legung und Entscheidungskom­petenz, im Al­ter nicht ab­nehmen müssen. In der Jugend er­wirbt man mög­­lichst viel an geistiger Kraft, und im Alter geht man mit die­­sem geistigen Kapital öko­nomisch um, man legt das Un­wich­tige beiseite und be­hält Wichtiges und Bedeut­sa­mes im Ge­dächt­nis. Durch stetes Ler­nen lassen sich die geis­tigen Kräf­te bewahren, womit die Min­derung der kör­per­lichen Kraft mehr als kompensiert wird.

Es geht um „Aktives Altern“. Dabei ist es nicht so wichtig, worin man aktiv ist, sondern daß man aktiv ist, und das ist für jeden anders.

Man muß lernen, das eigene Altwerden als Vorbereitung auf das Altsein zu akzeptieren und zu nutzen. See­lisch gesund al­tern trotz gewisser De­fi­zite setzt voraus, daß neben die ne­ga­tiven Eindrücke das positive Erlebnis des Alters als Her­aus­for­de­rung und weitere Entwicklungsmöglichkeit tritt.

Die Fähigkeit, Leistungen nach außen hin zu erbringen, läßt nach. Der Anruf aber und das Vermögen, den Weg nach innen zu gehen und von innen her zu reifen, werden stärker. Das zu er­­ken­nen und wahrzunehmen, ist eine Chance des Alters. Lieb ge­wordene Gewohnheiten sind hilfreich beim gesamten Prozeß. Schließlich stirbt man dann alt und lebenssatt.

Arthur Rubinstein wollte fröhlich altern und lebte nach dem SOK-Modell: Selektieren – Optimieren – Kompensieren. Er such­­­te sich für sein Repertoire nur Stücke aus, die er wirklich beherrschte (Selektion), er mußte länger üben (Optimierung), und er spielte deutlich langsamer (Kompensation).

Es geht im Alter nicht um Glück, sondern darum zu verste­hen, wel­che Gnade mir zuteil wurde über die Jahre. Habe ich in all den Jahren wirklich gelebt?

„Viele möchten leben, ohne zu altern, und sie altern in Wirk­lichkeit, ohne zu leben.“ (Alexander Mitscherlich)

Das Alter ist die Zeit, in der zum letzten Mal das Angebot da ist, den eigenen Schatten zu erkennen, das ins Unbewußte verdrängte Leben, das doch zu mir gehören will: der dunkle Bru­­der meines Lebens. Wir müssen unseren Schatten kennen­lernen, uns ihm stellen, ihn annehmen und verwandeln. Wenn wir auf einen Lebensanspruch verzichten oder verzichtet ha­ben um eines höheren Gutes willen, wird er nicht zum Schat­ten, sondern gleichsam als „Opferflamme“ Licht. Wenn die Ker­­ze nicht weint, kann die Flamme nicht brennen.

Was entsteht, muß auch vergehen. Leben ist eine kleine Frist auf dieser Erde in der großen Unendlichkeit. Leben läßt sich weder auf­schieben noch auf später vertrösten. „Und so lang Du dies nicht hast, dieses: Stirb und Werde! Bist Du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“ (Johann Wolfgang von Goethe) Wer sich diesem Gesetz fügt, erlebt aber auch, daß jen­seits des Sterbens neues Leben auf ihn wartet, was die Chri­sten Auferstehung nennen.

„Himmelfahrt“ ist für das, was gemeint ist, ein kindliches Wort, ein ungeschicktes, und wir haben Mühe, es zu verstehen; denn folgende Vorstellung läßt sich heute nicht mehr vertre­ten: Von hier unten nach dort oben, wo die Wolken sind, stieg Christus hin­auf. Himmel ist der Ort Gottes. Aber wo ist Gott? Er ist doch wohl überall, oben ebenso wie unten, in uns selbst und in allen Dingen. „Himmel“ ist ein Ausdruck für die über­legene Gegen­wart Gottes in der Welt, es ist im Grunde ein Wort für Gott selbst. Himmel ist alles das, was uns wunschlos glücklich macht, wo nichts zu wünschen übrigbleibt. Himmel­fahrt ist die ab­schied­liche Seite der Auf­erstehungserfahrung.

Wenn Gott in einer Wolke dargestellt wird, verbirgt sich dahinter die Scheu, Gott im Bild festzuhalten, aber auch die Er­fahrung, daß er uns in unserem irdischen Dasein nur in ver­hüllter Gestalt begegnet (vgl. Ps 18,12 u. Apg 1,9).

Der alte Mensch weiß abschiedlich zu leben, er weiß, was die Stunde geschlagen hat und ob die Stunde geschlagen hat, er hat eine Ein­­sicht, die viele Erfahrungen in sich trägt. Er kann die Ernte einfahren und da am besten loslassen, wo er am erfülltesten gelebt hat. Er hat das Leben ausgeschöpft. Wer loslassen kann, ist frei. Nicht das, was er nicht mehr kann, steht im Vorder­grund, sondern die Fülle seiner Lebens­erfah­rung.

Im Sterben ist das Leben nahezu gänzlich Vergangenheit geworden; das Werden überwältigt gleichsam das Gewordene.

Das Geheimnisvolle und Transzendente erreicht und be­rührt Kinder und Heranwachsende noch leichter. Das Fragen nach dem Letzten ist in ihnen voller Hoffnung lebendig. Er­wach­­sene sind eher satt, sollten aber offen sein in Gelas­sen­heit für die Heimholung im Sterben. Nicht „Hauptsache ge­sund“ ist das Wichtigste, sondern „Hauptsache Gelas­sen­heit“ mit allen As­pek­ten: von Loslassen bis Sich-Überlassen.

Möchten wir auf der Höhe des Lebens nochmal siebzehn sein? Die Zeit verbrennt etwas in uns: das Unbekümmerte und die Aufbruchsfreude; aber sie arbeitet auch etwas heraus: das Sicherwerden über sich selbst, den Reichtum an Erfah­rungen, die Reife.

Eigenartig, daß es Menschen gibt, die in Kauf nehmen, eher früher zu sterben, als eine ungesunde Lebensweise zu ändern.

Habe ich die nötige Gelassenheit?