
Gedanken zu Lesefrüchten (25.3.2019)
Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.
Die Zeile „Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander“ hat Friedrich Hölderlin (1770-1843) in einer dritten Fassung um ein Wort erweitert „und hören können voneinander“.
Das Wesen des Gespräches liegt im Augenblick des Stattfindens. Es ist ein Live-Ereignis, das weder ein Drehbuch kennt noch benötigt. Der Genuß eines Zwiegespräches besteht darin, daß die Gedanken nicht von mir oder meinem Gegenüber alleine, sondern von beiden in eine sprachliche Form gebracht werden.
Es ist eine Sternstunde, wenn mich jemand mit seiner Frage beschenkt und mir eine Antwort zutraut. Bei einem guten Gespräch kann es geschehen, daß etwas bisher Ungesagtes aufklingt, gleichsam eine neue Erkenntnis geboren wird. Wie bei einer leiblichen Geburt braucht es auch hier zwei Menschen. Es kann dabei Neues geboren werden, was vorher weder meinem Gegenüber noch mir aufgegangen ist, und zwar nach der Erkenntnis: „Als ich deine Antwort gehört habe, habe ich meine Frage erst richtig verstanden.“
Wie oft reden wir aneinander vorbei, oder der eine muß warten, bis der andere aufgehört hat zu reden, um endlich selbst etwas loszuwerden. Wie schade ist es, wenn wir sagen müssen: „Wir gingen auseinander, ohne uns verstanden zu haben.“
Sprechen ist schöpferisch. Die Abbildung dessen, was als Hauch beim Sprechen aus dem Mund strömt, ergibt eine Gestalt. Was wundert es, daß die Bibel die Schöpfung dementsprechend beschreibt: „Gott sprach ... und es ward“ (Gen 1,3 passim), und feststellt: „Das Wort ist Fleisch geworden.“ (Joh 1,14)
LOGOS
Das Wort ist mein Schwert
und das Wort beschwert mich
Das Wort ist mein Schild
und das Wort schilt mich
Das Wort ist fest
und das Wort ist lose
Das Wort ist mein Fest
und das Wort ist mein Los
(Erich Fried 1921-1988)
Du Wort, das der Vater spricht
Du Wort, das der Vater spricht,
behältst deine Gottheit nicht
als Beute und Raub,
du springst in den Staub:
Du Leben, du Licht
wirst Mensch, der zerbricht,
da fließen die lebenspendenden Wasser des Heils. Halleluja.
Herr, gib uns zu trinken davon.
Dein Wort ist nicht irgendein Ton.
Es dringt in uns ein
wie Feuer, wie Wein:
Wer glaubt, der hat schon
das Leben im Sohn,
dem Urquell der lebenspendenden Wasser des Heils. Halleluja.
Du Wort des Herrn bist ein Schwert,
das Sehne und Mark durchfährt
und Wahrheit heißt
und Macht ist und Geist,
das ewig währt
und uns verklärt
in der Kraft der lebenspendenden Wasser des Heils. Halleluja.
(Stundengebet der Kirche)
Wir sind Gespräch
Mystiker haben selten das Bittgebet gepflegt, sie haben an einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhältnis der Beziehung gearbeitet. In diesem Akt des Sprechens wird das Geheimnis der Welt als Sprache und Gehör geglaubt. Im wirklichen Gebet gilt, was Friedrich Hölderlin mit der Wendung „seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander“ ausdrückt. Das Gespräch, das wir „sind“ und nicht „führen“, nennt uns als Antwortende, die immer schon angesprochen sind. Wir sind nicht Vereinzelte, die einsam gegen die Mauern des Nichts schreien. Wir fabrizieren uns nicht selber. Die Selbstfabrikation wird durch „Verdanktheit“ oder Gnade abgelöst.
Dorothee Sölle (1929-2003) in: ,,Mystik und Widerstand“ (Kreuz, Freiburg 2014)