
Gedanken zu Lesefrüchten (26.10.2020)
Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.
Hartmut Rosa
UNVERFÜGBARKEIT
Residenz Verlag GmbH Wien - Salzburg
5. Auflage 2019
Das Buch von Hartmut Rosa hat mir erneut deutlich gemacht, was alles entgegen meiner bisherigen Vorstellung für mich doch nicht verfügbar ist.
Vor allem ist mir wieder bewußt geworden, wie sehr dieses in bezug auf Gott zutrifft. Unsere Bittgebete, vor allem als Fürbitten, machen oft den Eindruck, als könnten wir uns Gott verfügbar machen. Das Wort „Gebet“ wurde trivialisiert, indem man daraus eine Methode und Technik gemacht hat, das zu erlangen, wonach man strebt.
Laut Anselm von Canterbury (um 1033-1109) ist Gott größer, als Größtes gedacht werden kann. Für mich gilt aber auch, daß er kleiner ist, als Kleinstes gedacht werden kann entsprechend den Erkenntnissen der Quantenphysik, die auch den Vergleich mit dem Kleinsten zuläßt.
Hartmut Rosa schreibt dazu auf Seite 113: „Von den kleinsten Materieteilchen lässt sich nicht einmal mehr sagen, dass sie existieren, sondern allenfalls noch, dass sie eine Tendenz haben, zu existieren. Man muss kein Esoteriker und kein komischer Kauz sein, um zu konstatieren, dass wir mit dem, was die Wirklichkeit ist, noch lange nicht fertig sind – begrifflich nicht und schon gar nicht im Blick auf unsere Beziehung zu ihr.“
Wir meinen heute, die Welt müsse berechenbar sowie erwartbar und damit verfügbar sein. Dabei geht aber das Lebendige verloren. Der Drang zur Verfügbarkeit zeigt sich unter anderem im Umgang des modernen Menschen mit seinem Körper; denn diesbezüglich steht er ständig unter Optimierungsdruck.
Wünsche werden in unserer heutigen Welt schnell Wirklichkeit. Doch es gibt Dinge, die sich nicht erzwingen lassen, wie zum Beispiel Schnee im Winterurlaub. Aber man weiß sich zu helfen mit künstlichem Schnee aus der Schneekanone.
Politische Entscheidungen haben die Tendenz, immer weiter in die Zukunft hineinzureichen. Das zeigt sich besonders deutlich bezüglich der Atomenergie oder der Gentechnik. Dort scheinen viele Entscheidungen unumkehrbar. Je weiter eine bestimmte Entscheidung in die Zukunft hineinreicht, umso schwieriger ist es, sie rational zu treffen.
Robert Oppenheimer (1904-1964) war die Atomenergie betreffend sehr zuversichtlich.
Hartmut Rosa auf Seite 130: „Heute, sieben Jahrzehnte nach Oppenheimers Euphorie, bedarf es keiner Erwähnung mehr, dass diese ‚Bemächtigung’ der Materie, diese Radikalisierung der Verfügbarmachung das schrecklichste uns bekannte und bedrohende Monster hervorgebracht hat – das Ungeheuer der radioaktiven Strahlung. Sie ist monströs.“
Weiterhin weist er am Beispiel von Tschernobyl und Fukushima darauf hin, daß sich diese Energie nicht mehr kontrollieren und beherrschen, sondern allenfalls „begraben“ lasse, was man ja auch versuche. Erst in Jahrtausenden werde sich zeigen, was daraus werde.
In einem Artikel der F.A.Z. Nr. 88 vom 15. April 2020 beschreiben Viktoria Kraetzig und Jan Bernd Nordemann aus der Kanzlei Nordemann in Berlin unter der Überschrift „Die große Kunst der Maschinen – Künstliche Intelligenz kann sogar teure Kunstwerke schaffen. Gilt das Urheberrecht auch für sie?“, was wir von der Künstlichen Intelligenz (KI) alles erwarten können.
Unter den vorwiegend juristischen Aspekten findet sich folgender Satz:
„Doch irgendwann werden starke KI-Systeme Inhalte schaffen, die für den programmierenden Menschen nicht mehr nachvollziehbar sind, von ihm nicht mehr gesteuert werden können. Sie werden so intelligent sein wie ein Mensch – mindestens.“
Link zum Artikel
Freuen wir uns über das, was uns verfügbar ist und gehen wir verantwortungsvoll damit um. Darüber hinaus gilt es, das Unverfügbare in unserem Leben zu akzeptieren.