
Gedanken zu Lesefrüchten (27.1.2020)
Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.
Hat die Stille einen Ton?
Offensichtlich hat die Stille einen Ton; denn das berühmteste Buch von Henri J. M. Nouwen (1932-1996) trägt den Titel „Ich hörte auf die Stille“. Sieben Monate nahm der Autor am Leben der Mönche im Trappistenkloster Genesee Abbey im Staat New York teil. Er unterstellte sich den Lebensregeln der Mönche, dem Schweigen, der Handarbeit, dem Gebet und der Führung des Abtes.
Wo finden wir die Stille in einer Welt der vielen Worte und schrillen Tönen, im Dröhnen der Motoren und schriller Musik?
Aber auch die Stille verstummt nicht, sie hat einen Ton. Das Rauschen eines Baches oder die Geräusche des Waldes stören die Stille nicht. Wenn alles still wird, kann das Geheimnis des Lebens sich entfalten. Alle großen Dinge kommen aus der Stille.
Nachhall Stille
Die Stille, die ich meine (das Wort kommt von „minnen“), ist jene, die dem letzten Ton der Bach-Orgel folgt, die in den Weltraum ausströmt. Die Stille ist der schönste Nachhall der Musik, und auch ihr Sine qua non (ihre Bedingung; d. Red.).
Näheres und Hörbareres als die Stille nach dem Verklingen oder wie beim Lesen gibt es nicht. Schöner und deutlicher kann die Stille nicht sein als beim Lesen, nachts, nur du, Buch, und ich, Träumer. Ein Weltraum, Weltraum unser.
Arnold Stadler aus: ,,Stille erfahren“;
hg. von Georg Magirius (Verlag Herder, Freiburg 2019)
Siehe Lesefrüchte vom 11. Dezember 2018 – Schweigen in Stille.