Gedanken zu Lesefrüchten (27.4.2020)

Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.

Krummes Holz - aufrechter Gang

Helmut Gollwitzer
Krummes Holz – aufrechter Gang
Zur Frage nach dem Sinn des Lebens
München Chr. Kaiser 1970

1970 veröffentlichte Helmut Gollwitzer sein Buch „Krummes Holz – aufrechter Gang“. Er macht sich darin auf die Suche nach einer christlichen Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.
„Krummes Holz – so nannte Immanuel Kant die Menschen. Aufrechter Gang – das ist Ernst Blochs Bild für des Menschen noch nicht erreichte, erst noch zu gewinnende Bestimmung. Aufrechter Gang – das ist Leben in Sinnesgewissheit. Krummes Holz – dem ist Sinn bezweifelt oder ganz aufgekündigt. Wie kommt krummes Holz zum aufrechten Gang?“
(H. Gollwitzer, Krummes Holz – Aufrechter Gang. München [3]1973, S. 9)

Immanuel Kant (1724–1804): „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“

Ernst Bloch (1885-1977): „Der Zielinhalt, das Zielbild im Naturrecht ist nicht das menschliche Glück, sondern aufrechter Gang, menschliche Würde, Orthopädie des aufrechten Gangs, also kein gekrümmter Rücken vor Königsthronen usw., sondern Entdeckung der menschlichen Würde, die eben gleichwohl zum großen Teil nicht aus den Verhältnissen abgeleitet wird.“

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Jesus verhilft einer gekrümmten Frau zum aufrechten Gang (Lk 13, 10-17)

Man kann sich dem Evangelium nähern, indem man es in die Tat umsetzt. In meinen Kursen habe ich die Teilnehmer wie folgt dazu angeleitet:

Alle stehen im Kreis. Gemeinsam werden wir langsam krumm, beugen uns nach vorne, stellen uns vor, wie das ist: Eine Frau, seit 18 Jahren krank, ihr Rücken ist verkrümmt. Sie kann nicht mehr aufrecht gehen.

Ich lade die Teilnehmer ein, umherzugehen. Alle haben bereits „Rückenschmerzen“ und rempeln sich beim Gehen an; denn sie schauen immerzu nur auf den Boden, nach unten, wo kein Licht hinkommt, in den Staub. Sie können nicht richtig durchatmen und einander nicht begegnen.

Ich „spiele“ Jesus und lege einem Teilnehmer die Hand auf. Daraufhin richtet er sich auf und richtet selbst einen anderen auf, der die Reihe fortsetzt, bis alle aufgerichtet sind und einander offen begegnen.

Gott will den aufrechten Gang! Wer nicht aufrecht gehen kann, ist kein Mensch. Die Evolution lehrt uns: Als unsere tierischen Vorfahren auf eigene Füße kamen, hatten sie die Hände frei und später auch das Hirn. Das war der Anfang des Menschseins auf Erden. Die gekrümmte Frau im Evangelium steht für alle, die ihrer Würde beraubt sind, weil sie nicht so recht Mensch sein dürfen; für alle, die nicht reifen können, weil sie nicht wachsen dürfen.

Ein Mensch, der seine Meinung sagt und seinen Rücken für etwas hinhält, ist ein aufrechter Mensch. Wer zu seinem Wort steht, zeigt Rückgrat. Wer in sich gefestigt ist, kann anderen den Rücken stärken.