Gedanken zu Lesefrüchten (29.4.2019)

Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.

Der Mensch im Augenblick der Geburt und des Sterbens

 

Walter Schels:
Das offene Geheimnis

Zum ersten Mal sah ich das Gesicht eines neugeborenen Menschen. Aber ich hatte keine Zeit, genau hinzuschauen, ich musste fotografieren, durfte keine Sekunde verpassen. Später, beim Betrachten der Fotos, entdeckte ich etwas für mich völlig Unerwartetes: Nicht ein gesichtsloses Neugeborenes schaut mich da an, sondern ein Gesicht mit Vergangenheit. Wissend. Uralt.
Es war immer auch die Weisheit in den Gesichtern, die mich bewegte. Das scheinbare Wissen über die großen Fragen unseres Lebens, woher wir kommen und wohin wir gehen. Am liebsten hätte ich diese kleinen, allwissenden oder alles ahnenden Wesen mit meinen Fragen bedrängt, Antworten von ihnen geholt, ehe sie anfangen zu vergessen. Denn das Vergessen beginnt, vermute ich, bereits in den ersten Lebensminuten.
(Der ANDERE ADVENT 2018/19: 28.12.2018)

Geburt eines Kindes

 

Unmittelbar nach der Geburt

 

 

 

 

24 Stunden später

Eine mythologische Vorstellung besagt: Wenn wir geboren werden, sind wir allwissend. Aber bald berührt uns ein Engel mit der Hand an der Stirn, und wir sind ein Säugling, der sich im Laufe des Erwachsenwerdens alles neu erwerben muß, falls er nicht irgendwann zu bequem dazu ist oder durch widrige Umstände daran gehindert wird. Wir haben durchaus die Chance, alt und weise zu werden.

Sobald ein Mensch das Licht der Welt erblickt, wird er von seiner Umgebung beeinflußt. Diese Prägungen lassen uns unsere Umwelt und Umgebung allmählich vertraut werden. Dadurch sind wir aber nicht vor Mißverständnissen gefeit. Man kann sich aber nicht mißverstehen, ohne sich bereits grundsätzlich verstanden zu haben.

Gezeugt und geboren werden ist ein Prozeß des Übergangs aus dem ALL-EINEN in Raum und Zeit. Wie kann es sich der Mensch erlauben, in diesen Prozeß einzugreifen?

Auch das Ende des Lebens ist ein Prozeß. Eindrucksvolle Porträts, aufgenommen kurze Zeit vor und unmittelbar nach dem Tod, hat uns Walter Schels geschenkt. „So würdevoll hat uns der Tod noch nicht ins Gesicht geblickt.“ Sterben ist ein Prozeß des „Hinübergehens“ aus Raum und Zeit zurück in das ALL-EINE. Wie kann es sich der Mensch erlauben, in diesen Prozeß einzugreifen?

Geburt und Tod umfangen das Geheimnis des irdischen Lebens. Wir kommen aus dem ALL-EINEN, lernen in der Fremde die Heimat (Gott) schätzen und folgen unserer Sehnsucht, wieder eins zu werden mit uns und mit allem, was wir nicht sind. All das sollte geschehen, ohne das Ende des Lebens zu beschleunigen oder künstlich zu verlängern.

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Eine Frau berichtete:
Ich glaube eher nicht an so etwas, aber als meine heißgeliebte Oma im Sterben lag, da sagte sie mit freudestrahlendem Gesicht: „Ich werde schon abgeholt.“
Ich hatte das Gefühl, sie meint von Bekannten abgeholt zu werden, also ihr vertrauten Menschen. Und sie strahlte so eine Zufriedenheit aus und war angstfrei dabei.
Da habe ich das Gefühl gehabt, das ist eine Sache, da brauchst du gar keine Angst vor zu haben. Also ich will nicht sagen, es ist was Schönes, da kannst du dich drauf freuen, jedoch hatte es etwas davon.
Ich war zu der Zeit sehr traurig, aber es war ein großer Trost in diesem Moment. Auch wenn es schon sehr lange her ist, diesen Moment und dieses Gefühl vergisst man nicht.

Siehe auch Leben und Tod.