Gedanken zu Lesefrüchten (4.11.2019)

Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.

Sein oder Nichtsein

Christophe Galfard (* 1976), ein Schüler von Stephen Hawking (1942-2018), schreibt in seinem Buch „Das Universum in deiner Hand“ auf Seite 366 den beeindruckenden Satz: „Hawking und [James] Hartle (* 1939) nahmen an, dass alle Universen, die zu dem unsrigen führten, aus dem Nichts – auf einem wirklichen, mathematische Nichts - aufgetaucht sein müssten, und das vor einer endlichen imaginären Zeit.“

An der Grund­­frage: „Gab es am Anfang von allem ‚Etwas’, oder war ‚Nichts’?“, scheidet sich der Hauptstrom der europäischen Gei­stes­­geschichte vom östlichen Denken. Für den Westen ist das Nichts logisch undenkbar. Warum ist „Etwas“ und nicht viel­mehr „Nichts“? Wenn wir den­ken, denken wir immer an Et­was. Das Sein steht im Zentrum. Das Nichts erklärt nichts.

Es gibt „den Horror vacui – die Abneigung, in der Natur Leere anzunehmen“, aber gibt es das Nichts, gibt es den nicht gefüll­ten Raum? Oder gilt die Aussage „Kein Nichts, nir­gends“? Materie ist ge­zwun­gen, den Raum kontinuierlich aus­zufüllen. Ein Vakuum läßt sich mit einem Konzertflügel ver­gleichen. Alle Tö­ne sind vor­han­den, aber erst durch den An­schlag des Pia­nisten werden sie aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit über­führt.

Das Ewige ist ebensowenig verständlich wie das Nichts oder das Außerhalb von Raum und Zeit.

„Gott hat alle Dinge aus Nichts gemacht, und dieses Nichts ist er selbst.“ (Jakob Böhme 1575-1624)

Im östlichen Denken ist das Absolute die Abwesenheit von Sein, eben das Nichts. Es ist als eine Art Hintergrund zu ver­stehen, vor dem etwas überhaupt erst als Seiendes er­scheinen kann. Das Nichts ist in diesem Sinne nicht positiv be­stimmbar; denn dann wäre es Etwas. Aber es ist die Bedingung für die Mög­­lichkeit von Sein.