
Gedanken zu Lesefrüchten (5.10.2020)
Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.
„Wer oder was hat uns zu dem gemacht, was wir sind?“ (Gerald Hüther * 1951)
Gerald Hüther
Würde
Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft
Knaus 2018
ISBN 978-3-8135-0783-6
Das Buch von Gerald Hüther hat mir erneut deutlich gemacht, wie mich die Umgebung, in der ich lebe und wirke, prägt und auch verändert, wie ich zu dem geworden bin, der ich bin.
Während meiner Zeit als Regionalvikar am Niederrhein und darüber hinaus habe ich jahrelang Exerzitien mit Ordensschwestern gehalten. Anschließend war ich 18 Jahre Spiritual im Collegium Borromaeum in Münster, wo ich gemeinsam mit den Priesterkandidaten lebte. Damals war das Haus mit sehr großen Kursen voll besetzt.
Nach einer gewissen Zeit stellten die Ordensschwestern in meinen Exerzitien fest, seitdem ich mit den jungen Männern im Collegium Borromaeum lebte, habe sich meine Sprechweise verändert.
Das Bild, das uns als Person ausmacht, ist immer einzigartig und bildet den Kern unserer Identität. Dabei sollten wir zu einem Gleichgewicht zwischen Verbundenheit und Autonomie gelangen. Es geht um die Einheit in der Vielheit. Welchen Einfluß das Umfeld auf unsere Entwicklung haben kann, zeigt die Geschichte vom Adler, der meint, ein Huhn zu sein.
Der „Himmelsgucker“ – Holzstich von Camille Flammarion (1842-1925) 1888
Wir dürfen unseren Glauben nicht vom Weltwissen abschotten; denn wir leben nicht mehr wie auf einer Erdscheibe, die Gott in sechs Tagen erschaffen hat. Können wir angesichts des heutigen Wissens in bezug auf unsere Erde noch an Gott glauben, ohne unsere Vernunft auszuschalten?
Die mit Abstand wichtigsten Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen, erwachsen aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen. Wir kommen als Individuen zur Welt, brauchen aber andere Menschen, um zu dem zu werden, was uns als Mensch ausmacht.
Laut René Girard (1923-2015) ist der Mensch von Haus aus ein imitierendes Wesen. Wir alle leben innerhalb einer gemeinsamen Sphäre, die uns prägt. „Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das hat er ihm glücklich abgeguckt“, heißt es bei Friedrich von Schiller (1759-1805) in „Wallensteins Lager“ von einem Menschen ohne eigene Qualitäten. Das macht uns unfähig, die Dinge zu sehen, wie sie sind; wir sehen sie, wie wir sind.
Es kann geschehen, daß ein Kind von anderen Menschen verprügelt, gedemütigt oder mißbraucht wird. Später findet es vielleicht niemanden, der ihm zeigt, daß es auch möglich ist, liebevoll und einander unterstützend miteinander umzugehen. Falls es dies nicht erfährt, besteht die Gefahr, daß es sich später ebenso verhält wie seine Peiniger.
Es gibt Menschen, die auf Grund ihrer spürbaren Ausstrahlung sehr anziehend auf andere Menschen wirken. Sie ruhen in sich selbst und sind nicht verführbar; denn sie besitzen einen inneren Kompaß, der sie durchs Leben führt. Sie lassen sich auf nichts ein, was ihre Würde verletzen könnte. Deshalb sind sie auch außer Stande, einen anderen Menschen zum Objekt ihre eigenen Absichten, Erwartungen oder Bewertungen zu machen.