Gedanken zu Lesefrüchten (7.1.2019)

Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.

Die Wochenzeitung DIE TAGESPOST vom 31. Oktober 2018: 21 zitiert Romano Guardinis (1885-1964) Vorstellung von Mystik. Für den großen Religionsphilosophen ist sie „die Innigkeit des Geheimnisses [verbunden] mit der Größe der objektiven Gestalt“. Für ihn repräsentiert die Liturgie die objektive Gestalt der Mystik.

Das Wort Mystik hängt mit Mysterium zusammen, das von der griechischen Wurzel „μύω myo = schweigen – Mund oder Augen verschließen“ abstammt. Es geht nicht um Ver­schwei­gen, sondern darum, „das alltägliche Bewußtsein der Sinne zum Schwei­­­gen [zu] bringen“.

Natürlich sagen auch alle wahren Mystiker nichts. Es gibt Dinge, über die man nicht sprechen kann. In der islamischen Mystik nennt man die Sufis „Leute der Andeutung“, das heißt, sie machen keine direkten Aussagen, sondern ergehen sich lediglich in Andeutungen. Di­rek­te Aussagen meinen oder zeigen auf einen Gegen­stand der Außenwelt oder des Bewußtseins, während die An­deutung nur einen leichten Wink oder einen versteckten Hinweis gibt.

„Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht.“ (Michel de Certeau SJ 1925-1986)

Die Mystiker erkennen den Geist als ein Fenster, durch das sich, wenn auch nur flüchtig, die absolute Wirklichkeit von etwas wahrhaft Göttlichem aus­ma­chen läßt.

Die Kirchen müssen sich grundsätzlich wandeln. Die große Herausforderung der nächsten Jahre besteht darin, diesen Wandel nicht als erzwungen und erlitten zu verstehen. Wir müssen uns eingestehen, daß wir unter einem Gottesentzug beziehungsweise unter einem Sprachverlust leiden. Wir brauchen eine Theologie der Krise, die in der Brüchigkeit der menschlichen Erkenntnis und unserer Zivilisation jenem Wehen des Heiligen Geistes lauscht, das uns erkennen und sagen läßt, wie und wo Gott uns fehlt. Anders vermögen wir nicht mehr, den Glauben an Gott zur Sprache zu bringen. Diese neue Art der Vermittlung von Mystik ist sehr schwer; denn sie erfordert eine Bewegung gegen den Zeitgeist. Das wiederum könnte, wie in früheren Zeiten geschehen, die Ausschaltung der Mystiker zur Folge haben. Meister Eckhart (ca. 1260-1328) hatte das Glück zu sterben, bevor das in Avignon wiederaufgenommene Verfahren des in Köln gegen ihn begonnenen Inquisitionsprozesses abgeschlossen war.

„Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ (Karl Rah­ner SJ 1904-1984)

Die Mystik ist die Zukunft aller Religionen.