„Für’n schlechtes Gewissen habe ich kein Talent“

1.6.2022

„Gewissen“ zur Zeit Martin Luthers und heute

In seinem Prozeß in Worms rechtfertigte sich Martin Luther (1483-1546) damit, sein Gewissen sei in Gottes Worten gefangen. Er könne und wolle „nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun“.

Der Begriff Gewissen entspricht der lateinischen Formulierung „conscientia“.

Laut Grimmschen Wörterbuch hat das Wort „Gewissen“ eine Restriktion seiner Bedeutung durchlaufen, bis es zu dem ethischen Begriff kam.

In den frühzeitlichen Texten hatte Gewissen die Bedeutung, reich an Wissen zu sein, einem Wissen, das man besitzt und nicht vorbehaltlos mit anderen teilt. Martin Luther gab sein Wissen an seine Studenten weiter und rechtfertigte seine Haltung mit der Begründung, er könne sich davon nicht distanzieren. Für ihn war Gewissen augenscheinlich keine moralische Kategorie.

In Mesopotamien und Ägypten hatte das Herz eine besondere Bedeutung. Bei den Ägyptern war es der Sitz des Gewissens und der schöpferischen Gedanken, deswegen wog man es beim Totengericht mit der Wahrheitsfeder auf.

Ernst Moritz Arndt (1769-1860):
Deutsches Herz, verzage nicht,
tu, was dein Gewissen spricht,
dieser Strahl des Himmelslichts,
tue recht und fürchte nichts.
(aus der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleons Frankreich)

Unser letzter Gehorsam gilt Gott gegenüber und ist ein Akt der Demut. Es ist Glaubensgehorsam. Wenn er Menschen gegenüber geübt wird, dann insofern sie Vermittler des göttlichen Willens sind. Es ist möglich, daß das Überich mehr Gehorsam fordert, als es irgendeine äußere Autorität kann. Nur wachsendes Ichbewußtsein kann die übergroße Macht des Überich eingrenzen. Es ist der Weg vom Erziehungsgewissen zum persönlichen Gewissen.

In unserer Zeit sind die Gottesbilder milder geworden. Der strafende Gott paßte aber besser zu unserer Schuld. Die Schuld der Welt lastet nun auf unseren eigenen Schultern. Früher gab es die Entlastung durch die Beichte. Heute bleibt das schlechte Gewissen.

Die praktikabelste Gewissenserforschung ist das Sich-Besinnen eines jeden über seine Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zur Natur sowie zu sich selbst.

Im Vergleich zur Gottes- und Nächstenliebe kommt die Selbstliebe vielfach zu kurz und ist mit einem schlechten Gewissen behaftet. Aber alle drei Formen der Liebe bilden eine große Einheit.

Kim McMillen (1963-1996) hat in wunderbarer Weise geschildert, worin Selbstliebe bestehen kann.