
4.1.2020
Glück und Zeit
Immer glücklich sein! Wer hätte diesen Wunsch noch nicht gehabt! Aber ist das wirklich wünschenswert?
Glücklich ist man nur in der Gegenwart. Für einen Erwachsenen ist es aber nicht möglich, immer in der Gegenwart zu leben. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der menschlichen Psyche, daß der Mensch vorwiegend in der Zukunft oder in der Vergangenheit lebt, in Hoffnungen oder in Erinnerungen, in dem, was er plant oder geschaffen hat. In der Meditation wird intensiv geübt, ganz im Hier und Jetzt zu sein, ganz in dem, was man gerade tut. Übende wissen, wie schwer das ist, aber auch wie beglückend, wenn es gelingt.
Glück ist nicht an Raum und Zeit gebunden, es ist vielmehr allgegenwärtig und doch zeitlich nicht von Dauer. Wir erleben das Gegenwartsglück, erkennen es aber erst hinterher, und so bleibt erneut die Sehnsucht nach Glück, häufig liegt es dann in einer Erfüllung, mit der wir gar nicht gerechnet haben.
Da Glück im voraus nicht erkennbar ist, läßt es sich auch nicht in einer bestimmten Form anstreben. Wer nicht andauernd glücklich ist, sollte nicht meinen, mit seinem Leben stimme etwas nicht.
Ein Sinnspruch des griechischen Philosophen Heraklit lautet: „Nicht gut ist, daß sich alles erfüllt, was du wünschst. Durch Krankheit erkennst du den Wert der Gesundheit, am Bösen den Wert des Guten, durch Hunger die Sättigung, in der Anstrengung den Wert der Ruhe.“
Die Erfahrung der Menschen mit dem Glück zeigt auch folgender Spruch: „Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.“ Glücklichsein besteht nicht nur im Bei-sich-sein, sondern im Heraustreten aus sich selbst auf den Nächsten zu. Eine Quelle des Glücks besteht darin, seine eigene Freude in der Freude anderer zu finden. Es gilt zu erkennen, daß die Tür zum Glück zu uns selbst hin aufgeht, wer darauf einstürmt, verschließt sie.
Glück läßt sich finden, aber es zu behalten ist eine Kunst. Wie Rhythmus Unterschiede gebiert, so macht Wechsel den Zustand des Glücklichseins aus; es kann sogar in der Vorfreude liegen. Das Glücklichsein des Fuchses im „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupéry beginnt bereits, wenn er weiß, wann der Freund kommt.
Wenn es in einer Paarbeziehung zuviel Nähe gibt, bricht manchmal aus nichtigem Grund ein Streit aus, um wieder die notwendige Distanz zu bekommen, aus der dann neue Nähe erwachsen kann.
Das Alter hat den Vorteil, daß man bescheidener wird im Anspruch und weniger ausgreifend in der Zielsetzung. Kluge Menschen planen dann nur noch für ein weiteres Jahr, aber für die nächste Woche machen sie ganz konkrete Pläne. Die Lust, uralt zu werden, steht in einem deutlichen Zusammenhang mit dem Gefühl, daß man im Grunde bereits ein glückliches Leben führt. Viele machen sich das Leben dadurch schwer, daß sie immer meinen, das Eigentliche komme noch. Erst zu spät stellen manche fest, daß es bisher auch schon recht gut war.
Die Frage „Bist du glücklich?“ reißt den Menschen aus seinem Glücklichsein heraus; denn während des Empfindens von Glück ist keine Reflexion möglich. Erst morgen werden wir wissen, ob wir heute glücklich waren.