10.11.2018

Heiliger oder Verbrecher?

Der Mensch unterscheidet sich vom Tier unter anderem dadurch, daß er sich selbst wahrzunehmen vermag. Es ist zum Beispiel ein Unterschied, ob ein Tier oder ein Mensch in den Spiegel schaut. Wer sich im Spiegel erkennt, weiß um seine Außenseite. Das wiederum ist eine Voraussetzung, um auf einen anderen Menschen einfühlsam zu reagieren.
Sich selbst fühlt der Mensch von innen, den ande­ren sieht er von außen. „Man kann dem anderen nur vor den Kopf schauen.“

Sich selbst wahrzunehmen ist eine Sache; sich so, wie man sich wahrgenommen hat, anzunehmen, ist eine andere. Dar­aus folgen die Fragen: „Kann ich Ja zu mir sagen? Zu mir mit allem, was zu mir gehört an Grundstrebungen und Trieben? Kann ich auch die bösen Neigungen in mir anneh­men? Kann ich mich richtig einschätzen, oder neige ich zur Idealisierung beziehungsweise zur Verteufelung? Hilft es mir, glauben zu dürfen, daß Gott mich so geschaffen und gewollt hat, daß er mich so annimmt und mich persönlich beim Namen gerufen hat, wie ich bin?“

Jeder trägt die Möglichkeit in sich, alles zu sein, ein Hei­liger und ein Ungeheuer. Mancher hat schon in Bezug auf sich selbst ge­sagt: „Es gibt kein Verbrechen, dessen ich nicht auch fähig wäre.“ Oft fehlt die Fähigkeit, ein Bild dessen zu­sammenzufügen, was eine Person wirklich ist. Es ist dann ein Glück, wenn die innere Gespaltenheit an verschiedenen Schauplätzen ausgelebt werden kann. Jugendliche schaffen sich ihre Peergroups entsprechend ihren eigenen emotiona­len Bedürfnissen und erfahren so die verschiedenen Anteile ihres Selbst. Aber auch Erwachsene brauchen gegebenenfalls solche Möglichkeiten.

Unser irdisches Leben ist nicht ohne Schatten. Adalbert von Chamisso (1781-1838) erzählt Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Sie verdeutlicht, wie es jemandem ergeht, der seinen Schatten dem Teufel überläßt. Er wird ein gesellschaftlicher Außenseiter; „denn ordentliche Menschen pflegen ihren Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gehen“. Indem Schlemihl seinen Schatten preisgibt, verliert er, was ihn mit den Menschen und auch mit sich selbst verbindet, sein „Selbst-Objekt“.

Kann ich mich so annehmen, wie ich bin?