2.10.2018

Ich bin Ich

 

„In jedem lebt ein Bild des, der er werden soll; solang er dies nicht ist, ist nicht sein Frieden voll.“ (Angelus Silesius 1624-1677)

Ein buntes Tier wird von vielen Tieren gefragt, wer es sei. Aber so war es noch nie gefragt worden, und es weiß auch nicht, was es darauf antworten soll. Mit allen Tieren, die es fragen, hat es etwas gemeinsam, aber doch ist es auch anders. Es wird darüber ganz traurig und fängt an zu weinen. Doch plötzlich kommt ihm die Erkenntnis: „Sicherlich gibt es mich, ICH BIN ICH!“ Nun sagt es allen: „So, jetzt weiß ich, wer ich bin! Kennt ihr mich? ICH BIN ICH!“[1]

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Manchmal bedarf es auch eines Fremden, der uns, wie es die folgende Erzählung zeigt, den Anstoß gibt, zu erkennen, wer wir wirklich sind.

Ein Mann ging in einen Wald, um nach einem Vogel zu suchen, den er mit nach Hause nehmen könnte. Er fing einen jungen Adler, brachte ihn heim und steckte ihn in den Hühnerhof zu den Hennen, Enten und Truthühnern. Und er gab ihm Hühnerfutter zu fressen, obwohl er ein Adler war, der König der Vögel.
Nach fünf Jahren erhielt der Mann den Besuch eines naturkundigen Mannes. Und als sie miteinander durch den Garten gingen, sagte der: „Dieser Vogel dort ist kein Huhn, er ist ein Adler!“ – „Ja“, sagte der Mann, „das stimmt. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügel drei Meter breit sind.“ „Nein“, sagte der andere. „Es ist noch immer ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauf fliegen lassen in die Lüfte.“ – „Nein, nein“, sagte der Mann, „er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals wie ein Adler fliegen“.
Darauf beschlossen sie, eine Probe zu machen. Der naturkundige Mann nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sagte beschwörend: „Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht dieser Erde: Breite deine Schwingen aus und fliege!“
Der Adler saß auf der hochgereckten Faust und blickte um sich. Hinter ihm sah er die Hühner nach ihren Körnern picken, und er sprang zu ihnen hinunter. Der Mann sagte: „Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn.“ – „Nein“, sagte der andere, „er ist ein Adler. Versuche es morgen noch einmal.“
Am anderen Tag stieg er mit dem Adler auf das Dach des Hauses, hob ihn empor und sagte: „Adler, der du ein Adler bist, breite deine Schwingen aus und fliege!“ - Aber als der Adler wieder die scharrenden Hühner im Hof erblickte, sprang er abermals zu ihnen hinunter und scharrte mit ihnen. Da sagte der Mann wieder: „Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn“. – „Nein“, sagte der andere, „er ist ein Adler und er hat das Herz eines Adlers. Laß es uns noch ein einziges Mal versuchen; morgen werde ich ihn fliegen lassen.“
Am nächsten Morgen erhob er sich früh, nahm den Adler und brachte ihn hinaus aus der Stadt, weit weg von den Häusern an den Fuß eines hohen Berges. Die Sonne stieg gerade auf, sie vergoldete den Gipfel des Berges, jede Zinne erstrahlte in der Freude eines wundervollen Morgens. Er hob den Adler hoch und sagte zu ihm: „Adler, du bist ein Adler. Du gehörst dem Himmel und nicht dieser Erde. Breite deine Schwingen aus und fliege!“
Der Adler blickte umher, zitterte, als erfülle ihn neues Leben. Aber er flog nicht. Da ließ ihn der naturkundige Mann direkt in die Sonne schauen. Und plötzlich breitete er seine gewaltigen Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers, flog höher und höher und kehrte nie wieder zurück. Er war ein Adler, obwohl er wie ein Huhn aufgezogen und gezähmt worden war.[2]

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Es ist möglich, anders zu werden als die meisten Artgenossen und die eigenen unentdeckten Möglichkeiten zu entfalten.

Auch auf Grund unserer Erziehung verborgen gebliebene Talente brechen nicht selten durch einen Impuls von außen auf und lassen sich daraufhin entwickeln und leben.

[1] Das kleine ICH-BIN-ICH, erzählt von Mira Lobe (1913-1995), gemalt von Susi Weigel, Verlag Jungbrunnen, Wien-München 111986

[2] Der Adler, aus dem Englischen von Alfons Michael Dauer, zitiert nach Gilhaus „Inmitten der City“, Verlag Ars sacra, München 1970