
30.6.2022
„Ich krieg die Krise!“
Der Begriff „Krise“ leitet sich ab von dem griechischen Substantiv κρίσις krisis und bedeutet ursprünglich Meinung, Beurteilung, Entscheidung, beziehungsweise von dem Verb κρίνειν krinein = scheiden, trennen, unterscheiden. Das Wort krisis bezeichnet keine aussichtslose Situation, sondern den Gipfelpunkt oder die Wendemarke in einer bedrohlichen Lage, sei es zur Heilung oder zum Tod. Insofern erfolgt eine jeweils angemessene Lösung.
Abstrakta werden im Chinesischen nicht selten aus zwei grundlegenden Begriffen mit den entsprechenden Schriftzeichen gebildet. In bezug auf das Wort Krise antwortet der Zeit-Kolumnist Christoph Drösser in der ZEIT vom 28. August 2003 auf die Frage: „Stimmt eigentlich, was immer wieder behauptet wird, dass im Chinesischen für „Krise“ und „Chance“ dasselbe Schriftzeichen verwendet wird?“ wie folgt:
„Krise wird mit weiji 危机 übersetzt, Chance mit jihui 机会. Beiden gemeinsam ist also das Zeichen ji 机 , das unter anderem Gelegenheit bedeutet. Wei dagegen heißt Gefahr, sodass in weiji die Bedrohung, aber auch ein Element der Wende zum Besseren enthalten ist; hui wiederum wird ebenfalls mit Gelegenheit übersetzt, bei diesem Wort liegt also eine Art Bedeutungsverdoppelung vor.“
Krise ist so etwas wie ein Dazwischen. Alte Gewißheiten sterben, und das Neue kann noch nicht geboren werden. Das Bewußtsein des Menschen kann etwa 50 Informationen pro Sekunde verarbeiten. Das Unbewußte bewältigt in der gleichen Zeit Millionen von Botschaften. Der Mensch entwickelt sich in fortdauernder Interaktion mit seiner Umwelt. Daher verfügt er über einen großen Erfahrungsschatz von Problemlösungen, um auch Krisen zu bewältigen.
Märchen spiegeln Lebenskonflikte und Reifungskrisen, sie bieten in verschlüsselter Form Hilfe für den lndividuationsweg, für Sinnsuche und Sinnfindung in schicksalhaften Lebenssituationen. Sie können trösten und ermutigen, die eigenen schöpferischen Kräfte zur Lebensbewältigung zu aktivieren.
Nicht selten geraten Ehen in eine Krise, weil es nicht möglich ist, Leidenschaft und Dauer zusammenzubringen. Auch wenn man sich an einem wunden Punkt getroffen fühlt, ist es wichtig, weiterzugehen und darauf zu vertrauen: „Es geht, wenn man geht.“
Auch das Scheitern birgt eine Chance; denn es führt zur Verwandlung. Wer nie eine ernsthafte Krise erlebt hat, verliert in Streßsituationen nicht selten die Nerven, weil er nie Frustrationstoleranz erworben hat, also nicht gelernt hat, mit Niederlagen umzugehen und nicht daran zu verzweifeln.
Unter der Überschrift „Zukunft der Volkskirchen –Werte liefern, das können auch andere“ in der F.A.Z. vom 12. November 2018 schreibt Peter Scherle:
„Wir brauchen eine Theologie der Krise, die in der Brüchigkeit der menschlichen Erkenntnis und unserer Zivilisation jenem Wehen des Heiligen Geistes lauscht, das uns erkennen und sagen läßt, wie und wo Gott uns fehlt.“
Ich persönlich freue mich, daß die Kirche sich nach wie vor in einer Geburtsphase befindet. Sie sollte sich immer wieder erneuern; denn sie vollendet sich erst bei der Wiederkunft des Herrn und bleibt bis dahin eine „semper reformanda“ - „eine immer zu Reformierende“. Diese Notwendigkeit zeigt sich vor allem in den Krisen, die sie zur Zeit durchmacht.