29.5.2020

Kreis und Mitte

Haben Sie schon einmal versucht, ohne Zirkel einen Kreis zu zeichnen? Das gelingt sehr selten. Meistens kommt nur ein kreisähnliches Gebilde dabei heraus. Hier und da liest man, welch bedeutendes Erlebnis es ist, wenn in Japan ein Zen-Meister nach einer Meditation mit Tusche auf Japanpapier einen Kreis zeichnet. Das gelingt ihm in dem Maße, wie er es aus seiner Mitte heraus zu tun vermag.

Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896-1984) hat 1948 ein Buch geschrieben mit dem Titel „Verlust der Mitte“. Wer könnte das nicht auch über sein eigenes Leben schreiben? Was ist die Mitte meines Lebens? Was mache ich von mir aus zur Mitte meines Lebens? „Aus der Mitte leben!“, mit diesem Ausruf werben viele Veranstalter für Besinnungstage und Exerzitien.

In einem Kreis ist die Mitte, das Zentrum, unausgedehnt und damit unsichtbar. Die Mitte läßt sich nur durch auf sie bezogene Elemente umschreiben.

 

 

 

 

 

Im Kreis als dem einfachsten Symbol des In-sich-Geschlossenen, des Vollkommenen und des Gleichen sind alle Punkte der Kreisbahn gleich weit vom Zentrum entfernt. Das Heilige stellt sich nie am Rand dar, sondern immer im Zentrum als Mitte. Am eindrucksvollsten erfahren wir das in der Fensterrosette einer gotischen Kathedrale.

Unsere Sehnsucht richtet sich auf die Mitte. Oft sind wir auf dem Weg dorthin blockiert. Wir verlieren uns an den Rand, an das Außen. Andererseits vertauschen wir die Begriffe und sagen zum Beispiel von Menschen am Rand unserer Gesellschaft, daß sie im sozialen Brennpunkt stehen.

Aus dem Mittelalter gibt es eine ungewohnte Darstellung des Pfingstereignisses, ein Bild mit vielen Rundformen um eine alles ordnende Mitte. Die zwölf Apostel mit Maria sitzen um einen runden Tisch. Jeder Kopf ist eingefaßt mit der Kreisform des Heiligenscheines. In der Mitte des runden Tisches liegt eine runde Hostienscheibe. Der Heilige Geist schwebt in Gestalt einer Taube, im Schnabel die Eucharistie haltend, von oben in den Kreis. Wie von der Nabe eines Rades gehen von der Mitte des Tisches, von der Eucharistie, rote Strahlen wie Speichen zum Mund eines jeden am Tisch. Keiner ist am Rand, keiner oben oder unten, alle sind bezogen auf die eine Mitte. Welch eindrucksvolles Beispiel christlicher Gemeinde!

Es kann nicht mehrere Mitten geben. Wenn der Mensch sich selbst zur Mitte macht, zum Maß aller Dinge, mißlingt sein Leben. Dann kommt er nicht in Drehung, sondern ins Schleudern. Der Mittelpunkt ist der Angelpunkt, der stillsteht, während sich um ihn herum alles dreht.

Die Mitte ist der Ausgangspunkt und Zielpunkt zugleich, Anfang und Ende. Von dort kommen die Impulse, die uns in Bewegung bringen. Die Mitte ist auch das Ziel all unseres Tuns.

Um aus der Mitte zu leben, brauchen wir den zwischen den Gegensätzen vermittelnden Mittler. Wer die Mitte seines Lebens gefunden hat, kann selbst vermitteln und anderen helfen, ihre Mitte zu finden.

Christus ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist er mitten unter ihnen.

Ich wünsche uns, daß wir Gott heute in welcher Weise auch immer als Mitte unseres Lebens erfahren.