22.6.2021

Kultur des Langsamen

Im Verkehrsfunk wird vor Stau gewarnt, nicht vor Rasern. In Quizsendungen werden die schnellsten Antworten belohnt. Wie aber reagiert ein Lehrer auf die Bemerkung eines Schülers: „Für die Antwort brauche ich etwas Zeit“?

Alle guten Entwicklungen brauchen Zeit. Langsam wachsende Bäume entwickeln einen starken Charakter und liefern gutes, hartes Holz.

Auch Kinder brauchen Langsamkeit für ihre Entwicklung; denn nur im Langsamen erfahren sie die Welt. Beim Spazierengehen halten sie immer wieder inne, um hier ein Blümchen zu bestaunen oder dort einen Käfer zu bewundern. Aber auch der Erwachsene sammelt als Fußgänger wesentliche und langlebige Eindrücke, wie zum Beispiel das Aufblühen einer Blume, das Wachsen des Grases oder des Felles eines Tieres.

Uns fehlt eine Kultur der Langsamkeit. Laotse (6. Jh. v. Chr. G.) nannte es Wu Wei (無為 / 无为) = Nicht-Tun. Ohne Wu Wei geschieht kein Kommenlassen, kein „Abwarten und Tee trinken“.

Siehe auch Impuls vom 23. März 2021 - Die Schnecke - der göttliche Gegenentwurf zur Eile unserer Zeit
und
Impuls vom 8. Februar 2021 - Der Weise tut nichts und es bleibt nichts ungetan (Zen-Spruch).

 

Der Engel der Langsamkeit
Ein Engel hat immer für dich Zeit,
das ist der Engel der Langsamkeit.
Der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken,
hilft beim Verstehen und beim Entdecken,
schenkt die Geduld, die Achtsamkeit,
das Wartenkönnen, das Lang und das Breit.

Er streichelt die Katzen, bis sie schnurren,
reiht Perlen zu Ketten, ohne zu murren.
Und wenn die Leute über dich lachen,
und sagen, du must doch schneller machen,
dann lächelt der Engel der Langsamkeit
und flüstert leise: Lass dir Zeit!
Die Schnellen kommen nicht schneller ans Ziel.
Lass den doch rennen, der rennen will!

Ein Engel hat immer für dich Zeit,
das ist der Engel der Langsamkeit.
Der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken,
hilft beim Verstehen und beim Entdecken,
schenkt die Geduld, die Achtsamkeit,
das Wartenkönnen, das Lang und das Breit.

Er sitzt in den Ästen von uralten Bäumen,
lehrt uns, den Wolken nachzuträumen,
erzählt vom Anbeginn der Zeit,
von Sommer, von Winter, von Ewigkeit.
Und sind wir müde und atemlos,
nimmt er unsren Kopf in seinen Schoß.
Er wiegt uns, er redet von Muscheln und Sand,
von Meeren, von Möwen und vom Land.

Ein Engel hat immer für dich Zeit,
das ist der Engel der Langsamkeit.
Der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken,
hilft beim Verstehen und beim Entdecken,
schenkt die Geduld, die Achtsamkeit,
das Wartenkönnen, das Lang und das Breit.

(Jutta Richter  * 1955)