
19.5.2020
Lesen ist die Umkehrung des Sprechens
Wir Menschen müssen das Lesen erst lernen. Siehe dazu Thomas Thiels Rezension des Buches von Maryanne Wolf: „Das lesende Gehirn“ in der F.A.Z. vom 30. September 2009 unter der Überschrift „Vertiefen Sie noch, oder scannen Sie schon?“.
Ein literarischer Text wird erst dadurch lebendig, daß er gelesen wird und im Bewußtsein des Lesers Gestalt annimmt.
Der Mensch ist primär ein Beziehungswesen. Wesentlicher Bestandteil der Beziehungsgestaltung ist die Sprache. Wir sprechen mit Gott, weil wir ihn lieben. Lesen ist die Umkehrung des Sprechens. Wir lesen zum Beispiel die Heilige Schrift, weil wir uns von Gott geliebt wissen.
Lesen ist nicht nur die Fähigkeit, Buchstaben und Wörter zu erkennen, das kann auch der Computer. Lesen ist ein geleitetes Phantasieren, ein selbständiges Produzieren von Wirklichkeit aus Zeichen. Der Leser ist aktiv, er erschafft sich aus der Lektüre eine eigene Wirklichkeit. Die Verbindung seiner inneren Wirklichkeit mit denen eines Textes erfährt er als Erweiterung seines Bewußtseins. Lesen ist ein ganzheitliches Erleben, an dem Kopf und Herz gleichermaßen beteiligt sind, daher verfallen wir zuweilen dem Zauber eines Buches. Lesen kann zur Magie werden. Die Kunst des Lesens wird heute dadurch erschwert, daß eher kurze Texte als ganze Bücher gelesen werden. Diese werden oft nur diagonal im Schnellverfahren gelesen. Es gibt Lernprogramme, die rationelles Lesen erleichtern: Doppelzeilentechnik, Tannenbaum-Lesen, Slalomtechnik, Zick-zack-Methode. Auch im Zeitalter der automatischen Textverarbeitung läßt sich noch immer zwischen den Zeilen lesen.
Die Macht des Lesens ist heute erkannt und wird in der Bibliotherapie eingesetzt. Der Leser wird durch ein Buch mit seinem eigenen Leben konfrontiert. Früher gab es nur wenige Bücher, und es konnten nur wenige Menschen lesen. Über der Bibliothek von Alexandria stand: „Heilstätte der Seele“. Die Heilkraft des Lesens hat nicht nur mit Krankheit und der damit verbundenen Mobilisierung von Selbstheilungskräften zu tun, sondern ist auch Mittel zur Selbstfindung.
Der nach eigenen Aussagen in den Bekenntnissen (Confessiones) unter starker Depression leidende Augustinus (354–430) bekam den Hinweis: „Nimm und lies!“, und die Verzweiflung schwand aus seinem Herzen.
Teresa von Avila (1515–1582) empfing den entscheidenden Impuls zu einem neuen geistlichen Leben durch die Lektüre der Bekenntnisse des Augustinus.
Edith Stein (1891–1942) las im Haus ihrer Freundin Hedwig Conrad Martius (1888–1966) in einer Nacht die Biographie der Teresa von Avila und erkannte: „Das ist die Wahrheit.“
Der als Soldat verwundete Ignatius von Loyola (1491–1556) las auf dem Krankenlager Heiligenlegenden und die Heilige Schrift. Das motivierte ihn, sein Leben zu ändern.
Die Macht des geschriebenen Wortes wird auch dadurch sichtbar, daß totalitäre Staaten bestimmte Bücher verbieten. Das Wort wird fast noch mehr gefürchtet als bewaffneter Widerstand. Auch die Kirche kennt den Index der verbotenen Bücher und das Imprimatur als kirchliche Druckerlaubnis.
Das hat alles nur Sinn, wenn das Gedruckte nicht einfach tot ist, sondern als gelesenes Wort lebendig ist mit einer Auswirkung, der sogar Zerstörung, aber auch Heilung zugetraut wird.
Jesus ist das menschgewordene Wort Gottes. Er verkündet uns die Botschaft vom Heil. Diese Botschaft ist in der Heiligen Schrift sehr verkürzt. Jesus hat selbst nicht geschrieben, was höchst erstaunlich ist. Ähnlich wie Sokrates, der auch nicht geschrieben hat, will er mehr, als die Schrift kann. In der Bergpredigt überbietet Jesus die Schriftgelehrten sechsmal mit seinem Ausspruch „Ich aber sage euch...“. Es bedarf großer Anstrengung, das von Jesus gesprochene Wort in seiner Fülle wiederherzustellen.
Es gilt, keine geschriebene, sondern eine gesprochene Rede aufzunehmen und vom Leser zum Hörer zu werden; denn der Glaube kommt vom Hören. Eine ähnliche Aufgabe hat die Predigt, die das in der Heiligen Schrift verkündigte Wort Jesu in volle Sprache rückübersetzt. Eine Lesepredigt ist eigentlich sprachlich nicht vermittelbar.
Seit dem 14. Jahrhundert wird Maria nicht mehr nur mit Wollkorb und Spindel, oder mit einer Frucht dargestellt, sondern auch mit einem Buch. Maria wird in der Kunst zum Lesevorbild für die Christenheit.
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Siehe auch „Du bist, was du liest“.