
Gedanken zu Lesefrüchten (5.11.2021)
Wenn ich etwas Neues sehe, bringe ich es manchmal mit etwas mir Bekanntem in Verbindung. So ist es auch beim Lesen. Das Gelesene kann etwas zum Ausdruck bringen, was ich schon immer gedacht habe, nur so noch nicht formulieren konnte. Gleichzeitig entsteht ein Nachdenken, das mich zu weiteren Erkenntnissen führt.
„Man kann das Leben nicht rückwärts verstehen, aber man muß es vorwärts leben.“ (Sören Kierkegaard 1813–1855)
Der Blick zurück ist notwendig, sonst lernen wir nichts dazu. Es gilt, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen; denn es ist fraglich, ob wir damals fähig gewesen wären, dieses oder jenes anders oder besser zu machen. Umdenken darf nicht allein von Trauer und Selbstvorwürfen bestimmt sein.
Jesus selbst hat zum Umdenken aufgerufen, aber nicht mit einer Drohpredigt oder gar einer Drohung mit der Hölle, sondern er hat Mut gemacht (vgl. z. B. Joh 14,27). Wir sollen uns entschlossen dem Neuen zuwenden.
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Rudolf Otto
Das Heilige:
Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen
Verlag C.H. Beck 2014; erste Auflage 1917
Link zum Buch
Rudolf Otto (1869-1937) faßt seine Lebensphilosophie zusammen unter dem Motto „Fascinosum et Tremendum – faszinierend und zugleich erschreckend“.
Er stellt eine Bedingung zur Lektüre seines Buches:
„Wir fordern auf, sich auf einem Moment starker und möglichst einseitiger Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertätsgefühle, Verdauungsstockungen oder auch Sozialgefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig Religionskunde zu betreiben.“
Die Bibel berichtet öfter, daß Erschrecken und Grauen ursprünglich ein Teil der religiösen Erfahrung sind (vgl. z. B. Mk 16,8). Gespenster gibt es nur, wenn man das Heilige kennt. Gott geht nicht auf in rationaler Kausalität.
Die christliche Gemeinschaft entstand nicht allein aus bloßer Verkündigung, diese kann starke Impulse kaum hervorbringen. Laut Rudolf Otto gibt es heute noch Religionen, in denen urwüchsige, instinktmäßige und naive Regungen und Triebe lebendig sind.
Das Heilige ist also von eigenem Wesen und nicht mit dem sittlich Guten zu identifizieren.
Rudolf Otto:
„Unbegreifbar ist der wirklich ‚mysteriöse‘ Gegenstand nicht nur deswegen, weil mein Erkennen in Bezug auf ihn gewisse unaufhebbare Schranken hat, sondern weil ich hier auf ein überhaupt ‚Ganz Anderes‘ stoße, das durch Art und Wesen meinem Wesen inkommensurabel ist und vor dem ich deshalb in erstarrendem Staunen zurückpralle.“
Der Mystiker Karl Rahner (1904-1984) formulierte: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“
Die Zitate von Rudolf Otto stammen aus der Sendung von Christian Röther im Deutschlandfunk vom 25. September 2019 unter dem Titel „Theologe Rudolf Otto – Das heilige Geheimnis“.
Link zur Audioversion der Sendung