17.1.2023

Mir genügt meine vollkommene Unvollkommenheit

„Wer recht in den Willen Gottes versetzt wäre, der sollte nicht wollen, daß die Sünde, in die er gefallen, nicht geschehen wäre“, formuliert Meister Eckhart (1260-1328). Wegen dieser Äußerung und 27 weiteren wurde er von der Inquisition verurteilt.

Er hatte das Glück zu sterben, bevor das in Avignon wiederaufgenommene Verfahren des in Köln gegen ihn begonnenen Inquisitionsprozesses abgeschlossen war.

 

 

Der französische Dichter und Schriftsteller Charles Péguy (1873-1914) hat einmal darüber meditiert, warum die göttliche Gnade in der Seele des größten Sünders unverhoffte Siege davonträgt, während sie bei den anständigsten Leuten so häufig ohne Wirkung bleibt:

„Der Grund ist eben der, daß die anständigsten Leute, oder schließlich und endlich jene, die man so nennt und die sich selber gern als solche bezeichnen, selber keine schwachen Stellen in der Rüstung haben. Sie sind unverwundbar. Ihre beständig heile moralische Haut schafft ihnen ein undurchdringliches Fell und einen Panzer ohne Lücke. Sie bieten nicht jene offene Stelle, wie sie durch eine gräßliche Wunde entsteht, durch einen unvergeßlichen Gram, eine unbesiegbare Reue, eine auf ewig schlecht geflickte Naht, eine tödliche Sorge, eine unsichtbar lauernde Angst, eine heimliche Bitterkeit, einen beständig verschleierten Zusammenbruch, eine auf ewig schlecht verheilte Narbe.
Sie bieten der Gnade nicht jenes Einfallstor, das die Sünde ihrem Wesen nach ist. Weil sie unverletzt sind, sind sie nicht mehr verwundbar. Weil ihnen nichts mangelt, wird ihnen das nicht gebracht, was alles ist. Selbst die Liebe Gottes verbindet den nicht, der keine Wunden hat. Weil ein Mann am Boden lag, hob der Samariter ihn auf. Weil das Antlitz Jesu schmutzig war, reinigte Veronika es mit einem Tuch. Wer aber nicht gefallen ist, wird niemals aufgehoben werden; und wer nicht schmutzig ist, wird nicht gereinigt werden ...
Darum ist nichts dem, was man mit einem etwas verschämten Namen die Religion nennt, so sehr entgegen wie das, was man die Moral nennt. Die Moral überzieht den Menschen mit einer Schutzschicht gegen die Gnade.“