
1.10.2020
Mit den Händen sehen
„Das sieht doch ein Blinder.“
Dieser Satz ist nicht so paradox, wie er klingt. Man weiß, daß ein Blinder mit einem gewissen Training Kunstwerke durch Betasten erleben kann. Die Erfahrung hat gezeigt, daß er auf Grund seiner Einschränkung die Bedeutung abstrakter Werke oft leichter erfaßt als nicht sehbehinderte Menschen. Der Blinde kultiviert das ursprüngliche Bedürfnis des Menschen, alles anzufassen, indem er seinen Tastsinn trainiert. Dabei geschieht es durchaus, daß sich etwas, was andere Menschen als scheußlich ansehen, für einen Blinden schön anfühlt.
Neben optischen gibt es auch haptische (griech.: ἁπτός haptόs = fühlbar) Eindrücke. Deswegen gibt es oft auch spezielle Ausstellungen für Blinde. Außerdem haben zahlreiche Museen ihre Kunstwerke auch in Blindenschrift gekennzeichnet, und in vielen Städten findet sich zumindest ein Bronzemodell, auf dem sich markante Gebäude der Stadt ertasten lassen. Tasten hilft, sich im Dunklen zurechtzufinden. Unser Gefühl hat im Gegensatz zum Verstand mehr mit Tasten als mit Sehen zu tun.
Unser Sehen hat durch Fernrohr und Mikroskop zugenommen. Gleichzeitig erblindet die Menschheit. Die taube und blinde Helen Keller (1880-1968) wunderte sich, wie wenig die Menschen bei einem Waldspaziergang wahrnehmen. Sie selbst konnte mit den Fingern die Farbe einer Rose spüren.
Diese berühmt gewordene Lebensgeschichte des Jacques Lusseyran (1924-1971), eines als Kind Erblindeten, der seine Behinderung mit Phantasie und Disziplin überwand, eines Mannes, dessen Leben als Widerstandskämpfer, Literaturprofessor und Schriftsteller von einer sensiblen Zuversicht getragen war, die ihn befähigte, auf unvergleichliche Weise zu „sehen“, hat mich außerordentlich beeindruckt.
Siehe auch Impuls vom 6. August 2019 – Die Blinden und der Elefant.