25.10.2018

Nimm Dir das Leben!

„Nimm Dir das Leben!“ Was ist Ihr erster Gedanke, wenn Sie das lesen? Als ich vor etlichen Jahren in einem Gespräch mit diesem Satz konfrontiert wurde, fragte ich mich: „Wie kann mich da jemand zum Suizid auf­fordern?“ Als ich zuckte und mich entrüsten wollte, wieder­holte mein Gesprächspartner den Satz mit einer in der Schreibweise nicht nachzuahmenden Betonung; der Akzent lag auf dem Imperativ „Nimm!“. Da erst erkannte ich die Doppeldeutig­keit dieses Satzes.

Anschließend hatten wir ein gutes Gespräch, das sogar biblisch wurde. Wir erinnerten uns an Jesu Auftrag: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10)

Leben wir? Haben wir Leben in Fülle?

Wir sind nicht tot, aber trotzdem leben viele von uns noch nicht; denn „Nicht-totsein“ heißt nicht „Schon-leben“, ebenso wie „Nicht-Krieg“ auch noch nicht „Frieden“ bedeutet.

Zum Leben in Fülle gehört nicht nur das Leben in der Gnade, die Gott uns schenken will, sondern auch schon das rein irdische Leben.

Askese und Verzicht sind nicht die einzigen Aspekte christlichen Lebens; es darf und soll auch Genuß und Lust geben. Gott hat die Schönheiten und Köstlichkeiten der Natur für uns ge­schaffen. Teresa von Avila (1515-1582) soll, als man ihr ein gebackenes Rebhuhn vorsetzte, das sie sich zur Verwunderung der Umstehenden sehr gut schmecken ließ, gesagt haben: „Wenn Fa­sten, dann Fasten; wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn!“

Wer nimmt sich die Freiheit, wirklich zu dem zu stehen, was er persönlich möchte? Diese Freiheit vernachlässigt in keiner Weise die Nächstenliebe. Manche Menschen können nur mit schlechtem Gewissen sich selbst etwas gönnen und genießen. Auf Grund falscher Schuldgefühle geht es ihnen sogar nur gut, wenn es ihnen schlecht geht.

Leben in Fülle bedeutet, selbst zu leben, statt gelebt zu werden. Nicht wenige Menschen lassen sich leben, ebenso wie sie denken lassen, werden getrieben und gelenkt, wenn nicht von außen durch andere, dann durch innere Muster und Antreiber, die sich im Laufe des Lebens in ihr Inneres eingeschlichen haben.

„Nimm Dir das Leben!“ Ob uns das heute ge­lingt, weil wir wissen, daß Gott uns das Leben in Fülle schenkt?