
18.9.2022
Ob der Übergang vom Tier zum Menschen nicht doch fließend war?
Ergänzung zu Wie wurde das Tier zum Menschen?
Konrad Lorenz (1903-1989)
Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen
Verlag: dtv 1968
Link zum Buch
Paarfindung bei Dohlen
(Auszug aus dem Kapitel „Die zeitlosen Gesellen“ S. 49)
Dohlen verloben sich in dem auf ihre Geburt folgenden Frühling, sind jedoch in dem darauffolgenden erst fortpflanzungsfähig. […] Der Dohlenjüngling „prahlt“ mit überschüssiger Kraft, alle seine Bewegungen haben etwas Gewollt-Gespanntes, er kommt aus der Imponierstellung (durchgedrückter Nacken und aufgerichteter Hals) überhaupt nicht mehr heraus. Er sucht dauernd Reibereien mit anderen Dohlen und läßt sich sogar in Kämpfe mit sonst gefürchteten Vorgesetzten ein. Aber wohlgemerkt: Nur wenn „Sie“ zusieht!
Vor allem aber sucht er auf die Umworbene mit dem Besitz einer potentiellen Nisthöhle Eindruck zu machen, von der er alle anderen Dohlen, ungeachtet ihres Ranges, vertreibt und in der er einen bestimmten Nest-Lockruf ertönen läßt, ein hohes, scharfes „Zick-zick-zick“. Dieses „Zu-Neste-Locken“ ist zumeist nur symbolisch. Es kommt in diesem Stadium auch gar nicht darauf an, daß die betreffende Höhle geeignet ist, um darin wirklich nisten zu können. Irgendein dunkler Winkel, ein kleines Loch, das viel zu eng wäre, wollte das Tier tatsächlich hineinkriechen, genügt für die „Zick-Zeremonie“ vollkommen. […]
Alle Formen der Selbstdarstellung richten sich beim werbenden Dohlenmännchen stets auf ein genau bestimmtes Weibchen. Wie aber erfährt dieses, daß die ganze Vorstellung nur ihm zuliebe stattfindet?
Das macht die „Sprache der Augen“! Das Männchen sieht nämlich während seiner Darbietungen dauernd nach der Umworbenen hin und bricht seine Anstrengungen augenblicklich ab, falls diese etwa wegfliegen sollte - was sie übrigens nicht so leicht tut, insofern sie Interesse für den Jüngling hat.
Höchst eigenartig, und auch für den Beobachter, der nicht vermenschlicht, unwiderstehlich heiter, ist der Unterschied zwischen dem Augenspiel des werbenden Männchens und dem des umworbenen Weibchens. Während nämlich der Mann ununterbrochen glühend und unverhohlen nach dem Mädchen blickt, schaut sie scheinbar nach allen Himmelsrichtungen, nur nicht nach dem balzenden Männchen. Tatsächlich schaut sie aber doch hin, und zwar mit ganz kurzen, nur Sekundenbruchteile währenden Blicken, aber doch auch wieder lange genug, um genau zu wissen, daß der ganze Zauber nur ihr gilt, und auch lange genug, daß auch er weiß, daß sie es weiß. Wenn sie nämlich ehrlich uninteressiert ist und daher gar nicht zurückschaut, so gibt der Jüngling seine vergeblichen Bemühungen ebensoschnell auf wie … andere Leute.
Ihr „Jawort“ gibt die Dohlenjungfrau, indem sie sich vor dem Männchen, das in höchster Imponierstellung herankommt, hinduckt und in eigenartiger Weise mit den Flügeln und mit dem Schwanz zittert. Diese Bewegungsweise entspricht einer symbolischen, „ritualisierten“ Paarungsaufforderung. Sie führt jedoch nie zur Paarung selbst, sondern ist reine Begrüßungszeremonie. Verheiratete Dohlenfrauen pflegen ihren Gatten immer mit dieser Bewegungsweise zu begrüßen; auch außerhalb der eigentlichen Paarungszeit. Die Zeremonie hat ihre stammesgeschichtlich ursprüngliche, unmittelbar geschlechtliche Bedeutung völlig verloren und drückt nunmehr die zärtliche Unterwürfigkeit des Weibchens gegenüber dem Gatten aus.
Von dem Augenblick an, da die Braut in dieser Weise ihrem Männchen „ergeben“ geworden ist, wird sie jedoch andererseits selbstbewußt und angriffslustig gegen alle anderen Dohlen der Kolonie. Für die Weibchen hat ja die Verlobung so gut wie immer eine gewaltige Beförderung in der Rangliste der Kolonie zur Folge, da sie, solange sie nicht verheiratet sind, als die durchschnittlich kleineren und schwächeren im Range allgemein tiefer stehen als die Männer.
Das jungverlobte Paar bildet eine innige Schutz- und Trutzgemeinschaft, jeder tritt geradezu wütend für den anderen ein. Sie müssen sich gegen die Konkurrenz älterer und ranghöherer Paare eine Niststelle erkämpfen und behaupten. Rührend, diese trotzige Liebe zu beobachten. Fast dauernd in maximaler Imponierhaltung, kaum je weiter als einen Meter voneinander entfernt, wandeln sie durch das Leben. Es sieht aus, als seien sie mächtig stolz aufeinander, wie sie so Seite an Seite gravitätisch dahinschreiten, das Kopfgefieder stärkstens gesträubt, so daß die schwarzen Samtkäppchen und die hell grauseidenen Nacken zu schöner, lebhafter Wirkung kommen. Und wie rauh sie nach außen, so zärtlich sind sie zueinander. Jeden Leckerbissen, den das Männchen findet, steckt es dem Weibchen zu, und dieses nimmt die Gabe mit der Bettelgebärde eines Jungvogels hin. Überhaupt vernimmt man in ihrem «Liebesgeflüster» kindliche Laute, die erwachsene Dohlen sonst nicht haben. Wie menschlich mutet auch dies wiederum an! Auch bei uns geht ja mit jeder Form von Zärtlichkeit eine unleugbare Neigung zur Verkindlichung einher. Sind nicht alle Kosenamen, die unsere Zärtlichkeit erfindet, Verkleinerungen? Der deutlichste Ausdruck der Zärtlichkeit, über den das Weibchen verfügt, besteht darin, dem Geliebten das Kopfgefieder zu putzen, also ihn dort zu pflegen, wo er selbst mit dem Schnabel nicht hinreicht. […] Diese Zärtlichkeit nimmt in den vielen Jahren treuer Ehe nicht ab, sondern zu! Dohlen sind nämlich langlebige Vögel; sie werden wohl nicht viel weniger alt als Menschen.
Siehe auch K. Lorenz 1927 Beobachtungen an Dohlen und Wie Mutationen uns zu Menschen machten.