1.3.2019

Scivias – Wisse die Wege (11)

Das Gehen des Menschen über diese Erde

Der Mensch ist nicht pflanzenhaft angewurzelt, sondern er kann durch Gehen seinen Standort verändern. Gehen ist Bewegung. Beim Gehen brauchen wir mehr Platz als beim Stehen; je schneller man geht, desto mehr Platz braucht man.

Je mehr Bewohner ein Ort hat, desto schneller gehen die Menschen dort. Wir beschleunigen unsere Schritte, wenn die Welt mit Reizen überladen ist. Schnelligkeit ist die Flucht in die innere Ruhe.

Spazierengehen ist eine sehr beliebte und gesunde Freizeitbeschäftigung. Es ist eine Schule des Sehens. Wenn das Gehen Probleme bereitet, wird das Fernsehen zur Konkurrenz, besonders bei alten Leuten.

Gehen bedeutet ein ständiges Abschiednehmen von dem Ort, an dem ich mich gerade befinde.

Gehen ist eine elementare Lebenserfahrung. Will der Mensch sich bewegen, muß er sich abstoßen. Jeder Schritt ist gleichsam ein aufgefangener Fall, beim Gehen riskiert man Schritt für Schritt den festen Stand.

Die Art des Gehens ändert sich im Laufe des Lebens. Wenn ein Kind rennt, schwebt es leicht dahin, es gebraucht fast nur die Zehenspitzen. Wenn sich der Organismus mehr der Erde angepaßt hat, ändert sich der Gang. Vor allem für Kinder ist es wichtig, häufig barfuß zu gehen; denn wenn der nackte Fuß auf Naturboden greift, wirkt dies auf entsprechende Organe als Reiz und fördert deren Ausreifung. Der Pubertierende schlenkert, der Erwachsene geht festen Schrittes, und der alte Mensch geht beschwerlich. Ein Betrunkener verliert die Aufrichtekraft und verfällt dem Eigengewicht.

Das Gehen der Menschen umschließt eine Vielfalt von Möglichkeiten, die der gesamten Tierwelt in ihren verschiedenen Gattungen getrennt gegeben sind.

Unsere Gangart ist sehr wandlungsfähig und läßt auf unsere augenblickliche Befindlichkeit schließen: Es gibt das machtvolle Ausschreiten, das schreckhaft angstvolle Zurückweichen oder das unsichere Trippeln. Wer zu stürmisch ausschreitet, handelt ohne Überlegung. Wer nichts zu tun hat und sich keinen Zwang antun will, strolcht durch die Gegend. Ein wiegender Gang verrät Eitelkeit und Selbstgefälligkeit. Choleriker treten mit der Ferse auf.

Wir sollten unseren Weg über diese Erde behutsam beschreiten, damit auf unseren Spuren Leben wächst, und nicht als Herrscher, unter deren Füßen Lebendiges zertreten wird. Eine Fußspur bleibt oft noch lange sichtbar, wir hinterlassen Spuren. Unser Wandeln auf Erden ist an die Tätigkeit der Füße gebunden.

Die Zivilisation hat sich auf Bequemlichkeit eingerichtet. Was weiß sie vom Rhythmus und den Strömungen der Erde? Sie kennt vorwiegend den Takt der Maschinen.

Durch unsere Bewegung beim Gehen, wenn wir einen Schritt vor den anderen setzen, bis zur Leistungsfähigkeit gelangen und uns dem Rhythmus der Erde angleichen, entdecken wir unseren eigenen Rhythmus wieder.

Die Völkerwanderungen gingen früher entgegen der Erdumdrehung von Ost nach West, der untergehenden Sonne nach. Es ist eine instinktive Glaubenshandlung, der Sonne zu folgen. Deswegen decken sich die antiken Pilgerstraßen mit den Breitenkreisen der Erde. Die Endpunkte tragen Namen wie Finisterre in Spanien, Finistère in Frankreich und Lands’ End in Großbritannien. Die Menschen strebten an das Ende der Welt in der Hoffnung, dort den Himmel zu finden. Wenn dann der Glutball der Sonne am Horizont im Meer versank, folgten diejenigen, die der Sonne nachzogen, ihrem Gott ins Jenseits.

Welche Fußspuren hinterlasse ich?