
16.10.2018
Sehen
Öffne mir die Augen für das Wunderbare an deiner Weisung. (Psalm 119, 18)
Das Sehen ist der Sinn, mit dem wir am weitesten nach außen gelangen. Wir können bis zu den Sternen sehen. Das Auge ist vielleicht auch das erste unserer Sinnesorgane, die Mitte unserer Sinne. Das Wort „Gesicht“ verweist darauf; denn damit sind nicht nur die Augen gemeint, sondern auch Nase, Mund und Ohren gehören dazu. Bei der Entwicklung des Kleinkindes spielt das Sehen eine wichtige Rolle; besonders wichtig ist der Blickkontakt zwischen Mutter und Kind. Wenn die Heilige Schrift von unserem Lebensziel spricht, dann heißt es, daß wir Gott schauen dürfen von Angesicht zu Angesicht (vgl. 1 Kor 13,12). Der Himmel wird „visio beatifica – glücklich machende Schau“ genannt.
In den Augen zeigt sich unsere gesamte Person. Wir bezeichnen sie als „Spiegel der Seele". Erst wenn wir einem Menschen in die Augen sehen, schauen wir ihn richtig an, doch wie schwer fällt das oft.
Wenn ein Kind sich verstecken will, begnügt es sich damit, die Hände vor das Gesicht zu halten und zu sagen: „Keiner kann mich sehen!“ Als Minimum an Verkleidung genügt eine Maske oder gar eine Augenbinde.
Für von Geburt an blinde Menschen ist es nicht leicht, sich in der Welt zurechtzufinden; denn allein mittels des Tast- und Gehörsinns, läßt sich der Zusammenhang der Dinge nur schwer erfahren. Erst das Sehen gibt allem eine Gestalt und Ganzheit. Wer als Kind erblindet, hat die Chance, ein untrügliches inneres Auge zu entwickeln. Ein beeindruckendes Zeugnis davon gibt der mit sieben Jahren erblindete Schriftsteller und Hochschullehrer Jacques Lusseyran (1924-1971) in seiner Autobiographie „Das wiedergefundene Licht“. Er schreibt: „Ich sah das Licht, obwohl ich blind war. Ich badete im Licht, einem Element, dem mich die Blindheit plötzlich näher gebracht hatte. Ich konnte fühlen, wie es heraufkam, sich ausbreitete, auf den Dingen ruhte, ihnen Form gab und zurückwich oder auch nachließ. Niemals jedoch gab es ein Gegenteil des Lichts. Dennoch gab es Zeiten, in denen das Licht nachließ, ja fast verschwand. Das war immer dann der Fall, wenn ich Angst hatte.“
Ein Schaden an unseren leiblichen Augen ist gering gegenüber dem Schaden, der an unseren inneren Augen angerichtet werden kann. Es gibt eine Völlerei und Genußsucht der Augen. Wenn der Mensch alles sehen möchte, wenn er an allem teilhaben will, hat er an nichts mehr teil. Eine Disziplin des Schauens ist ratsam.
Eine Gefahr für das Sehen ist in unserer Zeit das Auto. Es soll ein Transportmittel sein, wird aber zur Filmmaschine. In großer Schnelligkeit huschen die Schönheiten der Natur und die Bauwerke der Menschen an uns vorbei. Kinder zeigen noch, wie richtiges Sehen geht: Schon beim Spazierengehen wollen sie stehenbleiben und bald hier diese Blume und bald da jenen Käfer länger beobachten, als es nur im Vorbeigehen möglich ist.
Es braucht längere Zeit, bis wir etwas Geschautes ganz in uns aufnehmen. Der Maler Caspar David Friedrich verbrachte fünfeinhalb Stunden vor einer Tanne, wie sich aus seinem Vermerk auf dem Skizzenblock entnehmen läßt. Eine so lange Zeit kann er für die Skizze selbst nicht gebraucht haben. Aber er schaut den Baum an und wartet, daß dieser sich stärker zeigen möge. In einer solchen Tanne zeigt sich mehr als der biologische Baum. Hier tritt das Urbild des Baumes in Erscheinung.
Ob wir das rechte Sehen wieder lernen können? Ist es uns ein Anliegen, ein Auge zu haben für die Schönheiten der Schöpfung Gottes und für die Kunstwerke der Menschen? Welch heilende Wirkung könnte darin liegen. Johann Wolfang von Goethe (1749-1832) schreibt an Friedrich von Schiller (1759-1805) nach dem Besuch einer Bildergalerie: „Einige vorzügliche Kunstwerke habe ich gesehen, die mir die Augen wieder ausgewaschen haben.“
Der Apostel Paulus schreibt an die Korinther: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.“ (1 Kor 13,12)
Otto Riethmüller
Sonne der Gerechtigkeit,
gehe auf zu unsrer Zeit,
brich in deiner Kirche an,
daß die Welt es sehen kann.
Laß uns deine Herrlichkeit
sehen auch in dieser Zeit
und mit unsrer kleinen Kraft
suchen, was den Frieden schafft.