16.5.2020

Entwicklung von Sprache und Schrift

Am Anfang war die Schrift nur einen demütige Magd der gesprochenen Sprache

Wie ein Kind nach der Geburt das Sprechen lernt, so vollzog es sich auch beim Erscheinen der Lebewesen auf dieser Erde. Sprache ist nichts spezifisch Menschliches. Auch Tiere schreien, rufen und setzen Laute in die Welt. Menschen drücken sich von Geburt an sprachlich aus. Die ursprüngliche Kommunikation zwischen den Menschen bestand aus Mimik und Gestik, die sich in Laute und ins gesprochene Wort umwandelten. Unsere Sprache besteht nicht nur aus ganzen Wörtern, sondern aus vielen kleinen zusammengesetzten Sinneinheiten. Bereits vor der Geburt erlernen wir im Mutterleib die Melodie der Sprache unserer Mutter. Je älter wir werden, je mehr Laute wir hören und selbst aussprechen, desto mehr verknüpfen wir bestimmte Laute untereinander. In gewisser Weise formt Sprache das Denken wie Mimik das Gesicht.

Der Mensch der Sprache ist nicht nur dem Hörsinn ausgesetzt, sondern in kultivierter Form auch dem Sehsinn. Er liest und schreibt. Doch die Schrift schweigt, das Gesagte dagegen nimmt der Mensch mit dem Ohr wahr. Ursprünglich trugen die Dichter ihre Texte vor, indem sie sangen, insbesondere die mittelalterlichen Minnesänger. Blinde benutzen den Tastsinn, um die Braille-Schrift zu entschlüsseln.

Sprache ist nicht in erster Linie dazu da, Informationen zu vermitteln, sondern vor allem dient sie als sozialer Kit. Sprechen ist für den Menschen ein Signal der Zusammengehörigkeit wie für den Affen das Lausen.

Seit ewigen Zeiten versuchen die Menschen, mit ihrer Sprache die Welt und sich selbst zu verstehen. In der Sprache bildet sich jedoch nicht die Welt ab, sondern lediglich die eigene Sichtweise des jeweiligen Betrachters. Sprechen und Denken sind zwei Seiten derselben Medaille. Früher haben die Menschen Mythen erzählt und sich so ein Kontinuum geschaffen, in dem sie sich heimisch fühlten.

Denken beginnt mit dem gemeinsamen Sprechen und betrifft alle menschlichen Sinne. Wenn wir aussprechen, was wir wissen, gebiert dieses in unserem Gedächtnis vernetzte Wissen Worte.

Wie Augustinus (354-430) es in seiner Trinitätslehre beschreibt, ist der von dem gewußten Gegenstand geformte Gedanke das Wort, das wir im Herzen sprechen. Es gehört noch keiner anderen Sprache an. Wenn wir es denen, mit denen wir sprechen, zur Kenntnis bringen wollen, müssen wir es benennen. Die Wahrheit tragen wir also im Herzen. Im Gegensatz zu den Tieren sind wir fähig, darüber zu reflektieren.

In rein mündlichen Religionsgesellschaften waren die Bräuche außerordentlich flexibel; denn im Gegensatz zu den späteren Buchreligionen gab es keine festgesetzte Kanonbildung. Das Fehlen einer materiellen Festlegung von Wissen und Tradition erzeugte eine große Kreativität, Erinnerungen festzuhalten.

Eine Veränderung erfolgte vor etwa 2800 Jahren mit der Erfindung der Schrift und der Entwicklung der griechischen Sprache aus dem phönizischen Alphabet. Seitdem sind Menschen nicht mehr nur aufs Hören angewiesen. Während das Gehörte verklingt, kann man das Geschriebene immer wieder lesen, beziehungsweise vorlesen.

In seiner Rezension des Buches „The Power of the Written Tradition“ von Jack Goody (1919-2015) schrieb Johan Schloemann unter dem Titel „Analphabeten können nur Stille Post abschicken“ in der F.A.Z. vom 30. Mai 2000 unter anderem:
„Goody hat dieses Potenzial der Schrift am eigenen Leib erlebt. Als Feldforscher hat er bei einem schriftlosen Stamm in Nordghana eine rituelle Rezitation schriftlich festgehalten und publiziert. War der vorgetragene Mythos zuvor in recht unterschiedlichen Versionen aufgeführt worden, so bezog man sich mit der Zeit auf Goodys Text, was zu einer Vereinheitlichung der Fassungen führte. Der Forschungsbericht war zum heiligen Text geworden, die Verschriftung hatte eine vorher nicht vorhandene Orthodoxie generiert.“

Es gibt verschiedene Strategien, Sprache zu verschriftlichen. Jedes Vorgehen birgt Vor- und Nachteile. Ein chinesisches Zeichen kennzeichnet ein Wort, gibt aber keinen unmißverständlichen Hinweis auf die Aussprache. Dennoch dient es der Verständigung unter den Menschen unterschiedlicher Sprachen und Dialekte.

Ähnlich verhält es sich auch mit den Zeichen für Zahlen. Wer zum Beispiel das Zeichen „18“ kennt, versteht es, weiß aber nicht unbedingt, wie man es in den verschiedenen Sprachen ausspricht.

Die Japaner füllen das Schriftzeichen für Tor mit aussage­kräftigen Inhalten. Man nennt das ganze Bild Ideogramm.

1            2           3           4          5          6           7          8

Das Ideogramm 1 ist als Tor einfach und bildhaft verständlich. Mit der Füllung für „irgendwer“ wird Ideogramm 2 zum Zei­chen für „Schwel­le“. Im Ideogramm 3 entsteht durch die Fül­lung mit einem „Schlüssel“ das Zeichen für „öffnen“. Im 4. Ideo­­gramm wird die „Sonne“ eingefügt und bedeutet so „Zwi­schen­raum“. In der Sonne leuchtet der Mensch. Ideogramm 5 be­deutet nun „leuchten“. Ideogramm 6 enthält das Zeichen „Ohr“ und bedeutet „hören“, über die Schwelle hinüberhören. Ideo­gramm 7 mit dem Zeichen für den musikalischen „Ton“ bedeu­tet, für uns schwer verständlich, Dunkelheit. Im Ideo­gramm 8 ist das Zeichen „Mund“ unter den Bogen gestellt. An der Schwel­le wird das Sprechen zur „Frage“.

Im Hebräischen schreibt man normalerweise nur Konsonanten und keine Vokale. Mittels Punkten und Strichen über beziehungsweise unter den Buchstaben zeigt man die Vokale zum Beispiel wie folgt an: ﭏ oder אַ אָ אּ. Diese Vokalzeichen werden jedoch nur in religiösen Texten verwendet. In gewöhnlichen Texten erscheinen sie nur sporadisch, um die Eindeutigkeit einer Lesart zu gewährleisten.

Übertragen auf das Deutsche, wüßte man erst durch die entsprechenden Vokalzeichen, was zum Beispiel LBN bedeutet: Laben, Leben, Lieben oder Loben.

Wir schreiben nicht unbedingt so, wie wir sprechen. Unser Englischlehrer sagte uns: „Ihr müßt Euch daran gewöhnen, daß eine Stadt wie Jerusalem gesprochen und wie Konstantinopel geschrieben wird.“

Der Psychologe Ernst Pöppel (* 1940) äußerte in einem Interview mit Friederike Haupt in der F.A.Z. vom 11. Mai 2010: „Die Einführung der Schrift war eine Revolution, denn durch sie werden die Hirnareale fremdgenutzt. An sich ist Lesen also ein Mißbrauch des Gehirns. Durch die Fülle der Informationen, die jetzt überall verfügbar sind, stürzen wir uns allerdings in eine extreme Form der Überforderung.“

Laut Informationen von Neurologen befinden sich unsere Gehirne derart im Umbau, daß wir am Computer zwar immer schneller auf visuelle Reize reagieren, dabei aber unfähig sind, vielschichtige geistige Verknüpfungen zu begreifen. Manch einer stellt fest: „Ich fühle mich gut informiert, habe aber nichts verstanden.“

 

Könnten wir doch öfter mit Friedrich Höl­derlin (1770-1843) sagen: „Seit ein Gespräch wir sind / Und hö­ren können voneinander“, statt zu bemerken: „Wir gingen auseinander, oh­ne uns ver­stan­den zu haben.“